Zu den menschlichen Ängsten gehört auch die Angst vor der Zerstörung. Durch einen Brand in Teilen zerstört wurde nun die römisch-katholische Kathedrale »Notre-Dame de Paris«. Die weltberühmte Kathedrale Notre-Dame stand stundenlang in Flammen und ist schwer beschädigt.
Kathedrale »Notre-Dame de Paris« ist eine Ikone der mittelalterlichen Baukunst, ein Symbol für die Nation, für die Menschen und ihren Glauben und ein Monument der Identifikation. Nichts verbindet die Franzosen mehr wie die Kathedrale Notre Dame auf der Ile de Seine - das geistig-kulturelle Zentrum von Frankreich, nahe der Universität Sorbonne und dem Quartier Latin. Der gotische Baustil ist eine französische Schöpfung. Die wichtigsten Merkmale sind: Spitzbogen, Rippengewölbe, Strebewerk (Strebepfeiler und Strebebogen am Außenbau zur Entlastung des Gewölbes), Maßwerk, Triforium (Zwischengeschoß zwischen Bogenreihe und Fenstergeschoß). Im Allgemeinen: schmal und hoch, aufsteigend.
Mit dem verheerenden Brand ist auch ein Symbol zerstört worden. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier unter anderem dadurch, dass er bedeutungs- und sinntragende Symbole entwickelt hat, die Menschen über ihren Individualismus oder die Familie hinweg verstehen können. Katastrophen haben, ganz besonders, wenn sie solch gemeinsame Symbole betreffen, eine einigende, positive Wirkung auf den Zusammenhalt.
Je tiefer und verankerter die Symbolik eines Objektes in einem Volk oder bei Menschen ist, desto größter ist die Anteilnahme im Falle einer Zerstörung oder eines auftretenden Schadens. Das dürfte für viele Franzosen ein nicht zu verachtender Effekt der Katastrophe sein, ganz besonders in Zeiten, wo der Blick auf das Gemeinsame mehr und mehr verlorenzugehen droht.
Die römisch-katholische Kirche »Notre-Dame de Paris« (»Unsere Liebe Frau von Paris«) ist die Kathedrale des Erzbistums Paris. Die Unserer Lieben Frau, also der Gottesmutter Maria, geweihte Kirche wurde in den Jahren von 1163 bis 1345 errichtet und ist somit eines der frühesten gotischen Kirchengebäude Frankreichs.
»Fluctuat net mergitur« - das ist der Wahlspruch im Wappen von Paris. Die brennende Kathedrale mag schwanken, aber sie wird nicht untergehen.
Die Architekturgeschichte bedeutender Baudenkmäler lehrt, daß diese niemals architektonisch und baulich vollendet sein werden. Weder der Kölner Dom, noch der Petersdom, noch ein neu aufgebautes Notre Dame werden so gesehen jemals fertig werden. Derartige Bauwerke werden immer "Baustellen der Ewigkeit" sein. Was die Menschen dann auch an die Ewigkeit erinnern sollte ist, wie vergänglich diese Bauten sein können.
Die Kathedrale ist ein Monument der Ewigkeit, ihre Zerstörung erinnert jedoch an die Vergänglichkeit der Welt, denn Bauwerke sind nicht für die Ewigkeit erschaffen. Kunst und auch Bauwerke überdauern die Zeit nicht. Der Brand der Kathedrale Notre-Dame macht deutlich, daß von Menschen erschaffene Bauwerke und Gebäude keine Werke für die Ewigkeit, sondern alle Bauwerke von durchaus vergänglicher Natur und Dauer sind. Auch die Vorstellungen von Ewigkeit sind einem steten Wandel unterzogen und haben sich heute durchaus verändert. Solche "Ewigkeitswerte" scheinen heute aber leider in großen Teilen der Bevölkerung zunehmend von anderen, ebenso kurzlebigen wie fragwürdigen "Werten" verdrängt zu werden, so dass sich viele ihrer echten Werte oft gar nicht mehr richtig bewusst sind.
Der Mensch und die Welt, in der er lebt und die er - auch mit seinen Bauwerken erschafft - beide sind vergänglich wie die Zeit. Beide unterliegen dem ewigen Kreislauf des Lebens: Geburt, Heranwachsen, Erwachsenwerden und Tod. Dieser Zyklus schließt auch die Wiedergeburt mit ein. Im Zyklus eines Bauwerkes folgen dem Aufbau die Blüte und der Verfall - und einer Zerstörung folgt der Wideraufbau. Diese Erkenntnis spendet Trost auch in Zeiten der Not oder Katastrophe wie dem Brand von Notre Dame.
Zu den menschlichen Ängsten gehört auch die Angst vor dem Verfall - und von Gebäuden im Besonderen.
Deren Verfall droht, wenn man nicht genügend Anstrengungen unternimmt, Geschichte zu achten und zu bewahren, und sie für kommende Generationen in materiellem Wert und immatiellem Wesen zu erhalten.
Zu Napoleon Bonapartes und Victor Hugos Zeiten am Beginn des 19. Jahrhunderts war die Kathedrale Notre Dame aufgrund von Geldmangel durch Revolutions- und Kriegseinflüße akut vom Verfall bedroht - ein Grund um dem drohenden Vorfall vorzubeugen.
Im Jahr 1831 schrieb Victor Hugo seinen historischen Roman »Der Glöckner von Notre Dame« (»Notre Dame de Paris«), der als sein Meisterwerk gilt. Der historische Roman verdankt seine Entstehung dem drohenden Verfall der Kathdrale Notre Dame. Mit diesem Roman wollte Victor Hugo durch einen patriotischen Akt für den Erhalt von »Notre-Dame de Paris« einstehen. Durch das Erscheinen seines erfolgreichen Romans konnte das Bauwerk damals vor dem Verfall gerettet werden und so wird die Notre Dame auch nach dem verheerenden Brand durch gemeinschaftliche Anstrengung schon bald wiederaufgebaut werden. Diese Anstrengungen sind immer aller Mühen wert. - »Fluctuat net mergitur«.
Marcel Proust hat 1904 - wie Victor Hugo 70 Jahre zuvor - den "Tod der Kathedralen" beklagt. In einem Zeitungsartikel schrieb er: "Ach, es ist immer noch besser, eine Kirche zu verwüsten, als sie ihrem Zweck zu entfremden. Wenn das Opfer von Christi Fleisch und Blut nicht mehr in den Kirchen zelebriert wird, werden sie ohne Leben sein."
Blog-Artikel:
Die Kathedrale Notre Dame von Paris - Kulturwelt-Blog
»Der Glöckner von Notre Dame« von Victor Hugo - Literatenwelt-Blog
Literatur:
Kathedralen von Uwe Toman
Die großen Kathedralen. Gotische Baukunst in Europa von Uwe A. Oster