Samstag, 24. Dezember 2022

Die Mär vom Weihnachtsmann

Weihnachtsmann

Die Figur des Weihnachtsmanns, der in das Zauberreich der weißen Welt entführt, dürfte wohl zu den charmantesten Lügengestalten der Welt gehören, die um so mehr geglaubt werden, je unwahrscheinlicher sie daherkommen.

Da soll es also in der Weihnachtsnacht einen rot gekleideten Gabenbringer geben, der von weit her kommt und es schafft, dass Geschenke für Abermillionen Menschen nahezu zur selben Zeit unterm Weihnachtsbaum liegen. Sonderlich realistisch ist diese Mär nicht gerade. - »Zweifel ist der Weisheit Anfang«, sagte bereits René Descartes.

Aber sinnstiftend ist dieses Bild schon - und zwar nicht nur für Kinder, die zwischen Freude und Ehrfurcht hin und hergerissen am Heiligen Abend durch Schlüssellöcher schauen, um vielleicht doch einen Blick auf den unbekannten Geschenkebringer zu erhaschen, sondern auch für diejenigen, die eigentlich nicht mehr an ihn glauben. Unter dem grün geschmückten Weihnachtsbaum sind alle - groß und klein - am Weihnachstabend vereint.

Aber die alte Mär hat je auch etwas Anrührendes und tief Bewegendes. Rüttelt die anrührende Figur im roten Gewand und dem weißen Rauschebart doch an den Grundfragen der menschlichen Existenz: Wo kommt der Mensch her? Was treibt ihn um? Wo geht er hin? - Diese existenziellen Fragen wollen schließlich auch für den Weihnachtsmann geklärt sein!

Seinen Ursprung hat er vielmehr in der Figur des Heiligen Nikolaus. Ihm zu Ehren werden Kinder ab dem 14. Jahrhundert immer zum 6. Dezember beschenkt. Doch warum ausgerechnet er? In der Figur des Heiligen Nikolaus sind zwei historische Personen verschmolzen. Zum einen Nikolaus von Myra: Er lebte im dritten Jahrhundert und war Bischof einer Stadt in der heutigen Türkei. Die andere historische Person, die in der Figur aufgeht, ist Nikolaus von Sion aus dem sechsten Jahrhundert, der in einem Ort in der Nähe von Myra lebte.



Mittwoch, 14. Dezember 2022

Texte von Hegels Vorlesungen gefunden


Über 4.000 Seiten bisher unbekannter Notizen aus den frühen Vorlesungen des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel an der Universität Heidelberg wurden gefunden, berichtet »The Guardian«.

Der Fund wurde von Klaus Vieweg, einem deutschen Philosophieprofessor und im Prozess der Erstellung einer Hegel-Biographie, im Archiv der Erzdiözese in München gemacht. Es ist, als würde man eine neue Partitur von Beethoven oder ein bisher unbekanntes Gemälde von (Maler John) Constable finden, sagt Vieweg gegenüber »The Guardian«.

Es wird angenommen, dass die Notizen von Friedrich Wilhelm Carové, einem der ersten von Hegel an der Universität Heidelberg unterrichteten Studenten, in den Jahren 1816–18 angefertigt wurden.

Hegel wurde vor 206 Jahren 1816 als ordentlicher Professor der Philosophie an die Universität Heidleberg berufen.

Hegel (1770–1831) hatte einen tiefen und weitreichenden Einfluss auf die westliche Philosophie. Nicht nur im Bereich Ästhetik, Kunst und Schönheit – sondern vor allem als Geschichts- und Gesellschaftsphilosoph. Sein Einfluss lässt sich in fast allen politischen Ideologien nachweisen, und unter den „Junghegelianern“ seiner Zeit ist unter anderem Karl Marx zu sehen. Er ist auch notorisch schwer zu lesen. Der britische Philosoph Bertrand Russell nannte Hegel „den am schwierigsten zu verstehenden der großen Philosophen“.

Samstag, 10. Dezember 2022

Philosophisches Tackling im Fussball


Tackling (englisch für bekämpfen, attackieren) bedeutet beim Fußball, einen Gegner robust, aber fair vom Ball zu trennen; dazu gehört der Grätschschritt oder das gezielte Rutschen über das Spielfeld (engl. sliding tackling), um den Ball zu blockieren, zur Seite wegzuspitzeln oder ihn dem ballführenden Gegenspieler regelkonform abzunehmen.
Durch das Nutzen von Tackling-Techniken können u.a. folgende Situationen vorteilhaft genutzt werden: Abfangen des Balles vor einer möglichen Ballannahme des Gegners, direkte Balleroberung, Blocken bei Torschüssen, Blocken bei Pässen und Flanken, Unterbinden des gegnerischen Spielaufbaus.

Dazu gehört der Grätschschritt oder das gezielte Rutschen über das Spielfeld (engl. sliding tackling), um den Ball zu blockieren, zur Seite wegzuspitzeln oder ihn dem ballführenden Gegenspieler regelkonform abzunehmen.

Nicht herummäkeln soll man, sondern sich erfreuen, wenn der Fußballer zum Tackling aufläuft. Das Tackling ist nur hilfreich wenn man den Ball wirklich erobern kann sonst riskiert man ein Foul oder gar eine Verletzung. Immer den Ball in den Augen behalten und nicht auf die Finten oder Tricks der Gegner achten.

Eine Sonderform abseits des Fussballfeldes ist der Verbal-Tackler, der mental alles mit purem Nonsens mit Verve in den Sand setzt.

"Bei mir weiß man immer, woran ich bin." Günter Netzer

Die verbalen Tacklings erreichen - wen wundert es - nur selten philosophische Spitzen. Nur die ganz Großen laufen dabei zum echten philosophischen Tackling auf. So Johan Cruyff mit einer unwiderlegbaren Logik: »Fussballer von der Straße sind wichtiger als studierte Trainer.«

»Ein Spiel zu gewinnen, ist leichter, wenn man gut spielt, als wenn man schlecht spielt.«
Oder mit Worten non Franz Beckenbauer:

»Man kann jedes Spiel gewinnen, man kann auch jedes Spiel verlieren.«

Montag, 5. Dezember 2022

Rudolf Bahro 25. Todestag

Rudolf Bahro

Rudolf Bahro starb vor 25 Jahren am 5. Dezember 1997 in Berlin. Rudolf Bahro war ein deutscher Philosoph, Politiker und Sozialökologe. Der Vordenker des Marxismus gehörte zu den profiliertesten Dissidenten der DDR und wurde durch sein sozialismuskritisches Buch »Die Alternative« (1977) bekannt.

Rudolf Bahro war ein geschulter dialektischer Marxist und Meisterdenker im real existierenden Sozialismus. Wenig haben die Machthaber im real-existierenden Sozialismus mehr gefürchtet als Marxisten und Kommunisten mit Visionen. Bahro war einer davon, seine Kritik am System war hart und fundiert. Die Zeit hat ihn allerdings weitgehend überholt.

Er kritisierte den »real existierenden Sozialismus«, aber er war kein Gegner der sozialistischen Idee. Vielmehr plädierte er für systemimmanente Veränderungen, mit dem Ziel der Verwirklichung einer freiheitlichen Gesellschaft.


Von 1972 bis 1976 arbeitete er am Manuskript zu seinem Buch »Die Alternative«. Inhalt des Werkes ist eine umfassende Kritik am politischen und wirtschaftlichen System der DDR aus marxistisch- kommunistischer Sicht. Bahro erwies sich als kein Freund der Alternativlosigkeit im Sozialismus, denn auch diseer ist sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen unterworfen.

1977 veröffentlichte der Gesellschaftstheoretiker sein sozialismuskritisches Buch »Die Alternative«. Darin äußerte er Kritik am real existierenden Sozialismus aus kommunistischer Sicht und eine Vision für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft. Bestechend seine Fähigkeit, aus dem real existierenden Sozialismus heraus eine Alternative als Weiterntwicklung des Sozialismus zu denken. Der Marxist und Gesellschaftstheoretiker nahm im Grunde genommen bereits den Untergang des Sozialismus 12 Jahre später vorweg.

»Die Alternative« erschien in Köln als Buch und wurde später in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bahro entwickelt insbesondere die Idee des Dritten Weges weiter. Sein Werk wird im November 1978 auf dem "Internationalen Kongress für und über Rudolf Bahro" in Berlin von linken Theoretikern aus West- und Osteuropa ausführlich besprochen.


Der Autor zeigt anhand von Textstellen u.a. von Marx und Engels auf, dass der sog. "real existierende Sozialismus" kein Sozialismus nach Marx ist bzw. war, weshalb er von "nicht-kapitalistischen Staaten" spricht. Grundprobleme wie die Herrschaft des Menschen über den Menschen oder die Atomisierung der Masse waren auch in diesen Staaten systemimmanent.


Ein Marxist, der Gesellschaft hinausdenken kann, ist gefährlich. Nach Veröffentlichung eines Auszuges aus seinem Buch »Die Alternative« im SPIEGEL am 23. Augsut 1977 erfolgte die Verhaftung durch die Stasi der DDR wegen Verdachts nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Im Juni 1978 wurde er wegen des vorgeschobenen Grundes und Geheimnisverrat zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

In der DDR entstanden Bahro-Lesekreise und es kam in den beiden folgenden Jahren zu Solidaritätsaktionen von Schriftstellern, Politikern und Künstlern für den inhaftierten Bahro.

Im Oktober 1979 wurde Bahro zum 30. Jahrestag der Gründung der DDR amnestiert und konnte mit seiner Familie in die Bundesrepublik ausreisen.

Rudolf Bahro wurde am 18. November 1935 in Bad Flinsberg, Kreis Löwenberg in Schlesien geboren.

Literatur:

Die Alternative
Die Alternative
von Rudolf Bahro

Samstag, 3. Dezember 2022

Ohne Fussball wäre das Leben ein Irrtum

Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft


Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft


»Ohne Fussball wäre das Leben ein Irrtum«, frei nach Nietzsche.

Lässt sich mit dem Kulturphilosophen Nietzsche das Phänomen Fussball erklären und kann diese Erklärung auch gelingen? Alle Kulturkritik ist ihm ästhetisch fundiert und umgekehrt ist alle Ästhetik nicht ohne eine fundamentale kulturkritische Dimension. Friedrich Nietzsche hat sich wie zahlreiche andere Philosophen mit der Frage „Was ist schön?“, auseinandergesetzt. Gemäß Nietzsche ist Schönheit die Spiegelung menschlicher Lebenskraft.

»Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft« von Martin Gessmann weht der Geist der Philosophie in den Fussball, aber was hat das mit Nietzsche zu tun? Das Spiel ist durchaus Nietzsches Element, aber der Freigeist gar als Interpret des modernen Fussballs? Nietzsche ist als Stadiongänger kaum je vorstellbar. Der Philosoph, welcher tatsächlich ein Stadion besucht hat, war nicht Nietzsche, sondern Camus.
 
Das Buch klärt auf, was Nietzsche und alle Philosophen - die Musik, die Wirtschaft, das ganze hohe Intellektuelle - mit Fussball zu tun hat. - Was lässt sich aus dem Buch lernen? - Fussball ist ein Spiegel der Gesellschaft, in der die Vertreter der Moderne mit neuen Techniken jonglieren. Fussball ist die Lehre vom flexiblen Menschen in schnellen Systemanpassungen.


Es lassen sich mit der Kunstfigur zwar Zusammenhänge konstruieren, eine schlüssiges Erklärungsmodell wird daraus jedoch nicht. Andererseits: Ein kluger Mann wie Nietzsche musste sich dessen bewusst sein, dass seine Texte auch von anderen Geistern entfremdet und missbraucht werden können. Dennoch liefert das Buch einige recht gute Ansätze zu Verständnis des Fussballs: Im Zentrum des Republikanismus eines Rousseau dagegen sieht Gessmann die Idee der Emanzipation des Einzelnen und die Bildung eines allgemeinen Willens in der volonté générale.

Fussballerisch bedeutet das ein radikales Abschleifen von Hierarchien und das Verinnerlichen eines Gemeinschaftsmodells, das sich vor allem im freien Spiel manifestiert: Ballbesitz als Selbstzweck, bei dem sogar der Torschuss eigentlich den Aufbau immer neuer Anspielstationen in Dreiecken und Rauten stört. Es ist das Modell Pep Guardiola, das Modell FC Bayern München.

"Das Wesen von derart spielvarianten Mannschaften ist es demnach, in der ständigen Veränderung ihrer Grundeinstellung sich von allen anderen zu unterscheiden. Ihr Wesen ist es, immer auf der Kippe zu stehen."

Wie von Ferne grüsst shon die Postmoderne: Es ist der Ästhetizismus der Postmoderne, in dem es darum geht, die Statik bürgerlicher Gesellschaften durch kreative Interventionen oder politische Avantgarden zu durchbrechen. Der Ahnherr ist Friedrich Nietzsche, der gesagt hat: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit."

Sein Dynamit wird hier quasi auf dem Spielfeld zur Explosion gebracht. Auf dem Spielfeld ist die zündemde Idee das Dynamit.



Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft
Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft



Aber diese stürmisch assoziative Interpretation der Avantgarde hat auch ihre Mängel. Der Autor scheint nur einige wenige Trainer und Mannschaften ausschließlich im Profi-Fussball zu kennen, immer wieder bemüht er seine drei Archetypen von Trainern, die er durch die Mühle seiner platt gewalzten philosophischen Ansätze und drei Gesellschaftstypen dreht - als gäbe es nur diese.

Eine Reise vom Elfenbeinturm der universitären VIP-Lounges auf die Äcker der Bezirksligen dieser Republik wäre dem Autor zu gönnen, um sich mit der vielleicht eher autokratisch-despotischen Verfassung des modernen Fussballs auf dem Lande vertraut zu machen - wenigstens aber mit der Anarchie in der Kreisklasse suburbaner Fussballwelten.

Literatur:

Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft
Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft
von Martin Gessmann

Fußball: Eine Kulturgeschichte
von Klaus Zeyringer

Samstag, 26. November 2022

Was Fussball und Philosophie verbindet

Fussball WM Endspiel 1974

Die Philosophie im Fussball gesucht. - Die Kulturkritik hat lange Zeit den Eindruck verbreitet, was so populär ist wie Fussball, kann mit Hochkultur oder gar Philosophie nichts zu tun haben. Ein gängiges Vorurteil, denn es gibt durchaus verbindende Elemente.

Heute kann jedoch schon der aufmerksame Betrachter einer WM lernen, dass es sich in Wahrheit geradezu umgekehrt verhält und der Zeitgeist, frei nach Hegel, im Fussball eine für alle fassliche Gestalt angenommen hat. Wer einmal im Stadion war, hat erfahren, daß Fussball ein besonderes Erlebnis ist.

Was verbindet Fussball und Philosophie? Fussball ist wie das Leben eine verbindende Lebensform und ein massentauglicher Sport. Fussball ist ein kollektiver Sport, welcher als Gemeinschaftserlebnis in der Lage ist, Identität zu stiften. Zudem ist Fussball ein gelebter Sport, welcher sportliche Menschen dazu bringt, dem Leben einen Sinn zu geben und somit ihrem Leben einen Sinn stiftet.

Fussball passt zum Ästhetizismus der Postmoderne, in dem es darum geht, die Statik bürgerlicher Gesellschaften durch kreative Interventionen oder andere Avantgarden zu durchbrechen. Die Vertreter der Moderne jonglieren ja stets mit neuen Techniken. Spielsysteme sind hier Strukturelemente der Postmoderne, in der nur die Avantgarde zum Erfolg führt.

Fussball hat als Variation der Moderne durchaus seinen eigenen Ästhetizismus, welcher auf Innovation auf dem Spielfeld drängt: Die Spanier spielen den modernsten Fußball, die Engländer im Grunde immer noch Rugby und die Deutschen mußten den Libero erfinden. - Es ist im Grunde genau wie bei Peter Pan: Wer im Fussball gewinnen will, muss sich stets neu erfinden.

Literatur:

Philosophie des Fußballs
Philosophie des Fußballs
von Martin Gessmann


Weblink:

Die Philosophie im Fußball gesucht - www.deutschlandfunk.de




Mittwoch, 23. November 2022

»Der Mensch zwischen Mythologie und Wirklichkeit« von Othmar Käppeli


Dieser hintergründige Essay von Othmar Käppeli spannt einen kunstvollen Bogen von Wahrnehmung, Kognition, Bewußtsein, Erfahrung und Wissen - mit Ausflügen in die Evolution, Mythologie, Wissenschaft und technischem Fortschritt unter Berücksichigung der neuesten Forschung der Neurologie.

Menschen sind das Produkt ihrer Umwelt. Sie nehmen Einflüsse der Umwelt wahr, die wiederum kognitiv verarbeitet werden. Wesentlicher Untersuchungsgegenstand des Essay ist die Kognition - ein vielschichtiges Phänomen, welches Fähigkeiten wie Denken, Wahrnehmen, Erinnern, Entscheiden, Problemlösen und Sprechen umfaßt. Kognitives Lernen bedeutet, diese Einflüsse aktiv und subjektiv zu bewerten und die Erkenntnisse nutzen um zu lernen oder umzulernen. Diese Lernerkenntnis durch kognitives Lernen führt zu einer Verhaltensänderung, die stattfindet sobald sich eine Gelegenheit offenbart, die gemachte Lernerfahrung mit der Realität abzugleichen und zu überprüfen.

Die Wahrnehmung der Umwelt durch die Sinne nennt man Kognition. Kognition ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Sinne und die Verarbeitung in praktisches Wissen, um die Anforderungen bewältigen zu können.

Die Sinne können bei der Wahrnehmung getäuscht werden. Die menschliche Wahrnehmung beinhaltet immer auch die Möglichkeit des Truges der Täuschung. Es gibt bei der Sinneswahrnehmung eine mögliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung und der Wirklichkeit. Um diese Diskrepanz aufdecken zu können, ist es wichtig, die menschliche Wahrnehmung zu verstehen. Dazu gehören die neuronalen Strukturen und Prozesse, die an der Aufnahme, Verarbeitung, Speicherung und Bewusstmachung von internen und externen Reizen beteiligt sind.

Aus der Wahrnehmung wird Erfahrung und aus der empirischen Erfahrung wird schließlich Wissen, wobei die Erfahrung wichtige Erkenntnisse liefert. Doch die Erfahrung parodiert die Wirklichkeit.

Dieser Essay beschäftigt sich damit, wie unser Gehirn die Signale unserer Sinne mithilfe von gespeicherten Inhalten in ein subjektives Bild der Welt verarbeitet.

Wenn wir unter Berücksichtigung unserer eigenen Erfahrungen sowie der Erkenntnisse moderner Hirnforschung betrachten, wie wir wahrnehmen und urteilen, ergibt sich eine erste Annäherung an der Grad der Übereinstimmung von menschlicher Wahrnehmung und Wirklichkeit.

Daneben ist es aufschlußreich, die Evolution der kognitiven Fähigkeiten im Laufe kulturellen Entwicklung des Menschen zu verfolgen. Die Kognition der Menschen ist gegenwärtig nicht in der Lage, ihre Existenz unter dem Einfluß von lebensbedrohlichen Gefahren zu sichern.

Von den kognitiven Fähigkeiten hängt der Fortbstand der Menschheit ab. Im Laufe der Entwicklung veränderten sich Art und Dimension der Gefährdungen und entsprechnend die kognitiven Fähigkeiten. Die Frage ist, ob die aktuellen kognitiven Fähigkeiten des Menschen für die nachhaltige Gestaltung des individuellen Lebens und der zivilisatorischen Entwicklung ausreichen werden.

Es besteht ein innerer Konflikt zwischen Kognition, Wissen, Denken und Sicherung der Zukunft. Was ist, wenn das Wissen nicht den Anforderungen zur Bewälitgung von Krisen genügt?

Bereits der deutsche Philosoph Fichte wusste: Die Menschen haben das Interesse für eine Realität, die sie hervorbringen wollen - der Gute, schlechthin um sie hervorzubringen, der Gemeine und Sinnliche, um sie zu genießen.

Wissen ist kein Selbstzweck, sondern mit Mittel zum Zweck. Es dient dem Menschen zur Bewältigung des Lebens und der Erhaltung der Gattung. Dem Wissen fällt in Bezug auf die Realität die Schlüselrolle zu. Doch Wissen ist nicht Realität und oft ist Wissen ein falsches Abbild der Realität.

Stets gibt es verschiedene Wahrheiten und Wirklichkeiten, bei denen neue hinzukommen und andere verlorengehen.

Die Erfahrungsrealität und das Wissen haben nichts einander gemein. Dort, wo Wissen bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit falsche Signale setzt, ist die Zukunft der Gesellschaft gefährdet.

Der Transfer von Wirklichkeitswissen muss zu einer vordringlichen und permanenten Aufgabe unserer Gesellschaft werden, um die Fortexistenz der Menschheit als Ganzes zu gewährleisten. Bereits das Aufblühen und Vergehen früherer Hochkulturen lässt sich auf den Mangel an Wirklichkeitswissen zurückführen.

Der Autor sieht die Gefahr, daß die Sinne bei der Wahrnehmung einer komplexer werdenden Umwelt getäuscht werden. Es besteht die Gefahr, daß die erworbenen Kognitionsmuster des Menschen in einer komplexer gewordenen Welt nicht ausreichen werden, um die Wirklichkeit angesichts der Gefährdugnen richtig wahrzunehmen, um den Fortsbestand der Spezies zu sichern.

Wissen existiert als bzw. basiert auf überlieferten, tradierten und empirischem Wissen. Die Inhalte verändern sich in Laufe der Zeit und passen sich immer wieder neu an bzw. müssen angepasst werden. In das Wissen hineingewoben sind jedoch auch Mythen und Erzählungen. Doch auch Mythen und Archtetypen sind in uns Menschen vorhanden und wirken in ihnen.

Letztlich ist nur dasjenige Wissen nützlich, das zum Überleben der Menschheit als Gattung taugt bzw. förderlich ist. So gesehen ist Wissen immer auch Information zum Überleben.

Moderne Wachstums-Mythen sind in der Wissensgesellschaft als Grundlage des Wissens für die Bewältigung der gegenwärtige Probleme und der Sicherung der Zukunft nicht hilfreich, verleiten sie doch dazu, die Kognition der Realität zu verkennen und falsches kognitives Wissen anzuwenden.

Mythen – symbolisch aufgeladene Erzählungen mit zweifelhafter realer Grundlage – sind kein Phänomen, das auf die graue Vorzeit beschränkt ist, sondern auch in der Moderne weit verbreitet sind. Nicht allen Mythen haftet Wahrhaftigkeit und Glückseligkeit an. Viele liefern eher falsche Abbilder der Wirklichkeit. Es sind die gerade falschen Mythen vom unbegrenzten Wachstum, mit denen aufgeräumt werden muss. Und so steht der Mensch bei den kognitiven Einflüssen heute zwischen Mythologie und Wirklichkeit.

Aufgrund der Hauptaufgabe der Kognition, eine das Überleben des Einzelnen und der Spezies sichernde zivilisatoriche Entwicklung zu verwirklichen, müsse beispielsweise ein Löusungsansatz verfolgt werden, der verhindert, dass Dinge geschehen, die aufgrund des Standes des Wirklichkeisswissens Schäden proaktiv verunmöglichen: Der unverfrorene Mythos Fortschritt durch Wachstum, der Verabsolutierung der Mythos Freiheit zur Verhinderung von Schutzmaßnahmen zur Überwindung der Pandemie und die Begründung des Krieges durch archaische mythologische Ansprüche wären aufzugeben.

Vor dem Hintergrund der wachsenden Bedrohungen und Krisen der Welt ist richtige Kognition nötiger denn je. Je Misere bietet eine Chance, sich von alten Denkmustern zu lösen. Die Frage ist, ob die Kognition ausreicht, um die Welt und ihre Gefährdung so zu erkennen, wie es nötig ist, sie zu retten.


Jede Krise bietet die Möglichkeit, sich von alten Denkmustern zu lösen und zu befreien. Der Autor plädiert für eine stärkere Aneignung von Wirklichkeitswissen, um umweltfreundlichere Entscheidungen und Lebensweisen zu wählen. Dafür ist es nötig, althergebrachte Denkmuster sowie vermeintlich erstrebenswerte Ziele kritisch zu hinterfragen und eventuell über Bord zu werfen.

Es gibt also viele Gründe, die Muster der Kognition und Wahrnehmung zu überdenken. Das Buch zur Krisenhaftigkeit des Denkens ist eine Anleitung zur kognitiven Bewältigung von krisenhaften Situationen und liefert einen wichtigen und beachtenswerten Beitrag im Diskurs um die Rettung der Welt. Es gibt dem Leser Anstoß, anders über die Krisen der Welt und auch des Lebens nachzudenken.

Man kann das Buch auch als eine Anregung zur Änderung der gewohnten Denkmuster und Verhaltensweisen lesen. Das Buch gibt dem / der LeserIn Anstoß, anders über manche Dinge nachzudenken.

Literatur:

Der Mensch zwischen Mythologie und Wirklichkeit
Der Mensch zwischen Mythologie und Wirklichkeit
- von Othmar Käppeli

Samstag, 19. November 2022

Albert Camus und der Fussball

Albert Camus


Philosophie und Fussball sind durch das Leben miteinander verbunden: Fussball ist praktisch angewandte Lebensphilosophie. Auch Philosophen können sich für Fussball begeistern, wenn sie dadurch etwas für das Leben lernen können. Und einer von ihnen war Albert Camus, der schon früh begriff, worum es im Fussball ging: Im Fussball geht es um Moral, nämlich die einer Mannschaft."Alles was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball." Das sagte einmal Literaturnobelpreisträger Albert Camus.

Albert Camus war der Anziehungskraft des Fussballs erlegen. Er schaute während seiner Zeit in Paris gern dem Fussball zu und war oft im Prinzenparkstadion. Ein einzigartiges Dokument aus französischen Fernsehen-Archiven zeigt ein Erstligaspiel vom 23. Oktober 1957 im Prinzenpark zwischen Racing Paris und AS Monaco. Unter den 35.000 Zuschauern steht Albert Camus, genau eine Woche nachdem er von der königlichen Akademie in Stockholm zum Literaturnobelpreisträger erklärt worden war.

Der Fan des Hauptstadtclubs – die obligatorische Zigarette im Mundwinkel, mit Trenchcoat, Krawatte und dem Flair eines Humphrey Bogart – kommentiert als ehemaliger Torwart der Jugendmannschaft von Universitätsclub Racing Algier einen Fehler des Pariser Torwarts:

"Man darf ihm keinen Vorwurf machen. Erst wenn man selbst mitten im Wald steht,
merkt man, wie schwer es ist. Ich war selbst Torhüter bei RUA in Algier.
Die hatten übrigens dieselben Farben wie Racing Paris."

Camus war dem Fussball verbunden, seitdem er als Junge in den Strassen von Algier mit dem Ball spielte. In den Jahren 1929 und 1930 stand Camus als Jugendlicher bei Racing Universitaire Algeruios (RUA) zwischen den Pfosten. Bei dem Halbwaisen aus ärmlichsten Verhältnissen mit einer Mutter, die weder schreiben noch lesen konnte, wurde Tuberkulose diagnostiziert. Doch die wenigen Jahre in zwei Fussballmannschaften Algiers, die teils auf dem Truppenübungsplatz der Stadt spielten, sollten in Camus' Augen stets eine Schule fürs Leben bleiben. Sie begann damit, dass er Torwart wurde, weil er so sein einziges Paar Schuhe am wenigstens abnutzte und den Ochsenziemer der strengen Grossmutter weniger zu fürchten hatte.

1953 hatte der fussballverrückte Camus, der sich über seinen geliebten Sport nie theoretisch geäussert hat, sondern stets nur seine Fussballeidenschaft ausleben wollte, für die Vereinszeitung seines ehemaligen Clubs RUA einige Erinnerungen aufgeschrieben:

"Jeden Sonntag fieberte ich dem Donnerstag entgegen, wenn wir Training hatten und an jeden Donnerstag dem Sonntag, an dem gespielt wurde. Das Spielfeld hatte mehr Schrammen, als das Schienbein eines Mittelfeldspielers der gegnerischen Mannschaft. Ich begriff sofort, dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben, vor allem für das Leben in der Hauptstadt, wo die Menschen nicht ehrlich und gerade heraus sind. Mir war nicht klar, dass ich mit diesem Verein eine Bindung einging, die Jahre lang halten sollte und nie zu Ende ging. Ich ahnte nicht, dass mich noch 20 Jahre später in den Straßen von Paris oder von Buenos Aires – das ist mir tatsächlich passiert – das dämlichste Herzklopfen überkommen würde, wenn ein Freund oder Bekannter das Wort des Clubs RUA aussprach."

In seinen Pariser Zeiten, als er schon weltberühmt war, blieb das Fussballstadion für Camus ein Ort, den er gerne mit dem Theater verglich und wohin er, wie auch an jenem Oktobertag 1957, dem linksintellektuellen Milieu von Saint Germain des Pres und den Pariser Salons entfliehen konnte. Das hinderte ihn nicht daran, von der Stadiontribüne aus sehr selbstbewusst seinen Nobelpreis zu kommentieren:

"Es gab sicher zwei, drei Schriftsteller hierzulande, die hätten vor mir ausgezeichnet werden müssen. Da die Akademie nun aber offensichtlich einen französischen Schriftsteller auszeichnen wollte, hat sie vielleicht die Gelegenheit genutzt zu zeigen, dass Frankreich manchmal auch ein jüngeres Gesicht haben kann, als man allgemein annimmt." Man möchte Camus zurufen: "Sage mir, für welche Mannschaft dein Herz schlägt, und ich sage dir, wer du bist."



Weblinks:

Der Philosoph und der Fussball - www.deutschlandfunk.de

Camus lebt - www.camus-lebt.de

Samstag, 12. November 2022

Albert Camus über nordisches Denken

Albert Camus


Das Nordische war für den mediterranen Hedonisten Camus immer die deutsche Philosophie, ein Gemisch aus Philosophie, Religion und Politik, durchsetzt von trockener Spekulation. Dazu gesellt sich der deutsche Idealismus, dieses teleologische, zielorientierte, opferbereite Denken, ein Denken, das immer den Aufschub propagiert und sich nicht für das Jetzt und Heute einsetzt und dem die Gelassenheit fehlt.

René Descartes

Die räumliche Verkörperung des ungeliebten Nordens waren für Camus die Städte Prag, Berlin, Kopenhagen und Stockholm, der kalten Stadt in der René Descartes am 11. Februar 1650 in der Fremde an einer Lungenentzündung starb.

Dem mediterranen Denken setzt Camus das nordische Denken der Europäer entgegen. Das nordische Denken ist für Camus Ausdruck von Ideologien, Nationalismus und Imperialismus, der für viele Krisen in Europa verantwortlich ist. Die Verköperung des nordischen Denkens war für Camus der deutsche Philosoph Hegel, der kühle Rationalist und Systematiker.

Ein bischen mehr mediterranes Denken als Ausdruck der heiteren Gelassenheit täte auch so manchem Nordeuropäer und auch manchem nordischen Politiker sichtlich gut.

Weblinks:

Der Mitelmeermensch - 3 Sat Kulturzeit - www.kulturzeit.de

Samstag, 5. November 2022

Musk Absolutist der freien Rede

Elon Musk Twitter

Kürzlich bezeichnete sich Musk als »Absolutist der freien Rede« - also ein Monarch auf dem Meinungsthron. Ist das Selfmade-Ich Elon Musk gar ein »Fichtianer«, wenn er die freie Rede verabsolutieren muss? - Freie Rede bedeute, dass »jemand, den man nicht mag, etwas sagen kann, das man nicht mag«. Und dies sollte auch im Leitmedium des digitalen Zeitalters möglich sein, also auf Twitter.

Elon Musk will also den politischen Dialog ausgerechent durch Twitter wieder auf gesundere Beine stellen. Das wäre mindestens so verdienstvoll wie die Neuerfindung des Elektroautos oder seine unternehmerischen Pioniertaten im Weltraum.

Musk betont, daß er mit dem Kauf von Twitter politische Ziele verfolge. Er will sich zum ersten Kaiser des neuen Amerikanischen Imperiums ausrufen lassen.Man kann sich nicht vorstellen, daß Elon Musk anders sein soll als alle anderen Globalisten auch. Was zählt ist Geld und Macht und nichts anderes.

Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814) wusste über das Recht der freien Rede in seiner »Rede« kundig vorzutragen:


»Da jedoch dieses Recht des freien Mittheilens sich auf kein Gebot, sondern bloss auf eine Erlaubniss des Sittengesetzes gründet, und demnach, an sich betrachtet, nicht unveräusserlich ist; da ferner zur Möglichkeit der Ausübung desselben die Einwilligung des Anderen, sein Annehmen meiner Gaben, erfordert wird: so ist es an sich wohl denkbar, dass die Gesellschaft einmal für alle diese Einwilligung aufgehoben, dass sie sich von jedem Mitgliede beim Eintritt in dieselbe hätte versprechen lassen, seine Ueberzeugungen überhaupt niemandem bedankt zu machen.«


Die freie Rede im Internet kann auch eine Illusion sein, die viel Geld kostet und nichts einbringt.
Ob die Rechnung von Musk aufgeht, wird sich in der Zukunft zeigen.

>

Sloterdijk-Gedanke zur Klima-Konferenz

Weltinnenraum des Kapitalismus


»Die internationale Politik transformiert sich angesichts des anwachsenden Begegnungsdrucks zwischen den Weltakteuren auf signifikante Weise. Sie erscheint vor unseren Augen aus der Ära der großen Handlungen auszutreten und überzugehen ins Zeitalter der großen Themen - das heißt, der generalisierten Risiken, die zu semantischen Institutionen, mithin zu Universalien neuen Typs, gerinnen. Diese müssen in Dauerbesprechungen kleingearbeitet werden. Die Themenpolitik und der entsprechende Konferenz-Zirkus kommen nur als Produktion von autogenem Globalstress voran. Ihre Träger handeln für eine Menschheit, dich sich zunehmend als Integral aus aufeinander zugehenden Stresskommunen konstitutiert.«

Peter Sloterdijk, »Im Weltinnenraum des Kapitals« Seite 224

Literatur:

Weltinnenraum des Kapitalismus von Peter Sloterdijk

Dienstag, 1. November 2022

Der Tod in der Philosophie

Der Tod und die Frage nach den letzten Dingen sind ein großes Thema der Philosophie. Erstaunlich ist wie oft der Tod durch die Ideengebäude geistert als die ultimativ radikale Frage, eng verknüpft mit der nach der Sinnhaftigkeit des Lebens.

"Philosophieren heißt sterben lernen" ist ein geflügeltes Wort – der Gedanke findet sich schon bei Platon: Recht philosophieren heiße "leicht zu sterben", heißt es im Phaidon, der Schrift, an deren Ende Sokrates den tödlichen Schierlingsbecher nahm.

Die antike Stoa beruhigt uns über den Tod, und Montaigne empfiehlt, ihm jederzeit ins Gesicht zu sehen: "Die Vorbereitung zum Tode ist die Vorbereitung zur Freiheit", schreibt er.

Das Muster ist tiefgründig und simpel zugleich: Wir können die Angst vor dem Tod nur überwinden, indem wir ihm entgegen gehen, oder in Heideggers Worten: Das "Vorlaufen zum Tod" ist unsere "eigenste Möglichkeit".

Samstag, 29. Oktober 2022

Was ist Existenzialismus?


Mit Existentialismus (auch Existenzialismus) wird im allgemeinen Sinne die überwiegend französische philosophische Strömung der Existenzphilosophie bezeichnet. Existenzialismus ist eine philosophische Strömung, welche sich auf existentielle Erfahrungen im menschlichen Leben bezieht (Tod, Angst, Freiheit, Leiden). Ihre schillerndsten Hauptvertreter sind Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus.

Existenzialismus ist eine Philosophie bzw. eine Weltanschauung oder Lebensweise, in der es darum geht, was es bedeutet, als Mensch zu „existieren“ in dem Sinne, dass man aktiv sein Leben und dessen Sinngebung gestaltet im Unterschied zu bloßen Dingen oder Objekten, die quasi nur passiv „vorhanden“ sind.

Der Existenzialismus sieht den Menschen nach dem Ende der absoluten Systeme zunächst in eine Leere geworfen, weil ihm die absolute Orientierung abhandengekommen ist, er bleibt dabei aber nicht stehen, sondern sieht die Erfahrung des Sinnverlustes vielmehr als Aufgabe des Individuums, die darin besteht, sein Leben aktiv mit Sinn zu füllen, indem man dem eigenen Leben Bedeutung gibt und sich an selbstgewählten Werten orientiert.

Der Existenzialismus ist nicht nihilistisch - obwohl er zunächst so erscheinen mag. Als Nihilismus wird eine philosophische Position bezeichnet, die davon ausgeht und dabei bleibt, dass es keinen Sinn, keine Werte und nichts gibt, woran man sich orientieren kann. Nach Sartre war das die geistige Grundlage der Nazi-Ideologie, in der nichts gegen die totale Vernichtung auch des eigenen Volkes spricht. Existenzialisten versuchen, angesichts des Verlusts der absoluten Werte und Orientierungen einen Weg heraus aus dem Sinnverlust zu finden. Sie meinen, dass Leben aus dem Erschaffen von Sinn, Bedeutung und Werten besteht. D.h. der Mensch beginnt mit „nichts“, aber dann erschafft er sich seine Existenz, also sein bewusst gelebtes und mit Werten und Sinn gesetztes Leben.

Der Mensch findet sich jederzeit nicht nur in einer faktischen Welt, sondern auch in einer Welt der Bedeutungen. Auch die eigene Identität ist eine solche Bedeutung, in der sich der Mensch zunächst als „geworfen“ empfindet. Er ist Weiße/r, Intellektuelle/r, Arbeitslose/r, Mutter/Vater, Partner/in, Schüler/in oder Polizist/in. Normalerweise erleben wir uns innerhalb solcher Identitäten selbstverständlich und denken nicht darüber nach. Besonders in psychischen Krisen oder auch in einer tiefgehenden Psychotherapie können wir jedoch in Kontakt damit kommen, dass all diese Selbstverständlichkeiten, die Bedeutungsnetze, ja die eigene Identität keineswegs selbstverständlich, sondern jederzeit durch eigene freie Wahl veränderbar ist.

Der Existenzialismus hat viele Künstler, die ihrem Leben immer wieder existenziellen Bedrohungen ausgesetzt waren, welche auch künstlerischen Eingang in ihr Werk gefunden haben, inspiriert und beeinflusst. Existenzialistisch orientierte Autoren und Künstler waren Pablo Picasso (1881-1973), Fjodor Dostojewski (1821-1881), Franz Kafka (1883-1924), Samuel Beckett (1906-1989), Eugène Ionesco (1909-1994), Marc Chagall (1887 - 1985) und Alberto Giacometti (1901-1966).

Samstag, 22. Oktober 2022

Leibniz Monadentheorie

Gottfried Wilhelm von Leibniz


Leibniz entwickelte die Monadentheorie als Gegenentwurf zu den zeitgenössischen Strömungen. Die Philosophen des 17. Jahrhunderts arbeiteten in der Regel entweder eine neue Substanztheorie aus oder sie entwickelten die Atomtheorie nach neuzeitlichen Maßstäben weiter. Leibniz befriedigte keine dieser Auffassungen. Er nennt die Philosophie der Atomisten eine „faule“ Philosophie, da diese Auffassung, welche die Atome als letzte Bausteine ansieht, die lebendige, sich verändernde Welt nicht tiefgründig genug analysiere. 

Entgegen atomistischen Zeit- und Raumauffassungen, die diese Existenzformen der Materie mit einem leeren Gefäß vergleichen, vertritt Leibniz eine dialektische Konzeption, in der Raum und Zeit Ordnungsbeziehungen in der materiellen Welt sind. Der Raum ist die Ordnung der zur gleichen Zeit existierenden Dinge, die Zeit die Ordnung ihrer kontinuierlichen Veränderungen.

Monade bezeichnet nach Leibniz die Abgeschlossenheit einer Sphäre von allen anderen Welten und Sphären. Ein Subjekt ist demnach eine Welt ohne Fenster zu anderen Monaden. Den Monadenbegriff griff er aus der neuplatonischen Tradition auf. Der Begriff Monade, „Einheit“, stammt aus der Stoicheiosis theologike des spätantiken Philosophen Proklos. 

Eine Monade – der zentrale Begriff der Leibniz’schen Welterklärung – ist eine einfache, nicht ausgedehnte und daher unteilbare Substanz, die äußeren mechanischen Einwirkungen unzugänglich ist. Der Terminus Monas oder Monade bezieht sich naturphilosophisch auf eine gedachte Einheit von zugleich physischer und psychischer Bedeutung. Die Monadenlehre unterscheidet sich von der Urstofflehre der Atomisten.

Leibniz Monaden unterliegen keinerlei Einwirkung von außen, da das Außen eigentlich nur eine Repäsentation der Monade ist. Nach Leibniz gibt es jeoch weder einen leeren Raum, noch sind für ihn Monaden im Raum. Er setzt den Raum aus den Vorstellungen von mehreren Monaden zusammnen.

Das gesamte Universum bildet sich in den von den Monaden spontan gebildeten Wahrnehmungen (Perzeptionen) ab. Sie sind eine Art spirituelle Atome, ewig, unzerlegbar, einzigartig. Leibniz vertritt somit eine panpsychistische Weltanschauung. Die Idee der Monade löst das Problem der Wechselwirkung von Geist und Materie, welches dem System René Descartes’ entspringt. Ebenso löst sie das Problem der Vereinzelung, welches im System Baruch Spinozas problematisch erscheint. Dort werden einzelne Lebewesen als bloß zufällige Veränderungen der einzigen Substanz beschrieben. Ein Beispiel: Eine Substanz kann ohne Denken existieren, aber das Denken nicht ohne Substanz.

Da Leibniz die Grundfrage der Philosophie idealistisch löst und die Materie für ihn nur ein „Anderssein der Seele“ ist, verwirft er den absoluten Charakter von Raum und Zeit. Raum und Zeit werden in der Leibniz’schen Metaphysik als Ordnungsbeziehungen zwischen Entitäten der materiellen Welt verstanden. Die Theorie der Substanz von Leibniz schließt die Möglichkeiten der allseitigen Entwicklungen ein.

Samstag, 15. Oktober 2022

Nietzsche - Der letzte Mensch

Friedrich Nietzsche


»Der letzte Mensch« ist ein Ausdruck des Philosophen Friedrich Nietzsche in »Also sprach Zarathustra«. Er steht für den „christlich-demokratisch-sozialistischen“ Menschen, d. h. das schwächliche Bestreben nach Angleichung der Menschen untereinander, nach einem möglichst risikolosen, langen und „glücklichen“ Leben ohne Härten und Konflikte - also letztlich für den Nihilisten.

Weil er aber kein Chaos mehr in sich trägt, kann er auch „keinen Stern mehr gebären“, das heißt, seine Kreativität ist erlahmt und er kann kein Ziel mehr fassen, das größer wäre als er selbst. Er wird daher als negatives Gegenstück zum Übermenschen vorgestellt. Im Nachlass sagt Nietzsche: „Der Gegensatz des Übermenschen ist der letzte Mensch; ich schuf ihn zugleich mit jenem.“

Nietzsche schildert in »Also sprach Zarathustra« den letzten Menschen. Hat sich Nietzsche schon in seinen früheren Werken, wie »Morgenröte«, »Menschliches Allzumenschliches« und „»Die Fröhliche Wissenschaft« als feinster Diagnostiker unserer modernen Gesellschaft erwiesen, so charakterisiert er mit dem letzten Menschen den modernen Menschen als solchen. Es ist der gegenwärtige Mensch.

"Wehe! Es kommt die Zeit, wo der dem Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinauswirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat zu schwirren!
Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.


Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.
Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen."


Mit diesen großen Worten leitet Zarathustra seine Rede vom letzten Menschen ein. Der letzte Mensch ist für Nietzsche das verachtenswerteste Geschöpf der Erde. Der letzte Mensch hat es fertig gebracht, alle Sehnsucht, allen Willen zu Größerem zu verlieren. Er ist Endpunkt der tragischen Entwicklung, die unsere Gesellschaft, laut Nietzsche, durch macht. Scheinbar völlig mit sich selbst zufrieden lebt, oder besser vegetiert, der letzte Mensch vor sich hin. Er markiert den tragischen Endpunkt der Entwicklung der Menschheit.

Seinen Zarathustra lässt er über diesen weiter sagen:

"Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.

Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.

»Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.

»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln."


Mit diesen Worten wird der Stillstand geschildert, den Nietzsche so fürchtet. Keine Kraft mehr in sich haben, um etwas über sich hinaus zu schaffen, die Zeit, in der „die Sehne“ des Bogens verlernt hat zu schwirren. Die Unaustilgbarkeit des letzten Menschen ist Produkt der mangelnden Sehnsucht, der letzte Mensch beraubt seine Nachfahren um eine bessere Welt, denn er hat keine Nachfahren – er ist der Nachfahre, der letzte Mensch. Hier verblasst der Sinn des Daseins für Nietzsche, der als er den „Tod Gottes“ prognostizierte, vor einem gähnenden Abgrund der Sinnlosigkeit und Leere stand. Den völligen Wertverfall zu stoppen beabsichtigte Nietzsche, als er den „Übermensch“ erschuf. Er wollte dem aufziehendem Nihilismus Einhalt gebieten und seiner Zeit wieder Sinn geben. „Der Übermensch ist Sinn der Erde. Euer Wille sage: Der Übermensch sei Sinn der Erde!“ So verkündet Zarathustra. Warum? Für Nietzsche ist der Mensch das „kranke Thier“. Wenn man dieses Tier seines Gottes, seines Sinnes beraubt, bleibt nur noch Elend. Nietzsche war nicht von Grund auf Pessimist, im Gegenteil stellt seine Philosophie ein große schicksals-bejahende Philosophie da, aber er musste die sich selbst gerissene Wunde des Todes Gottes stopfen. Dieser Stopfen heißt Übermensch. Der letzte Mensch macht Nietzsche Angst.
Wie aber schildert er diesen „letzten Menschen“?

„„Wir haben das Glück erfunden“ - sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.

Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen als sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!

Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt dafür, dass die Unterhaltung nicht angreife.

Man wird nicht mehr arm und nicht mehr reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Herde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.

„Ehemals war alle Welt irre“ – sagen die Feinsten und blinzeln.

Weblink:

Nietzsche - Antinihilist - Antichrist - www.friedrichnietzsche.de


Mittwoch, 12. Oktober 2022

Platons Höhlengleichnis

Das Höhlengleichnis ist eines der bekanntesten Gleichnisse der antiken Philosophie. Es stammt von dem griechischen Philosophen Platon.

Platons Höhlengleichnis erzählt von der Trägheit der Menschen, sich dem Licht der Erkenntnis zu stellen.

Die Menschen in der Höhle scheuen das Licht der Erkenntnis und betrachten lieber die Schatten an der Wand, die sie als natürliche Abbilder halten. Die Höhle wirft je nach subjektiver Positionierung subjektive Schatten der Handlungsbasis.


Platon beschreibt die massive Beschränkung bzw. Manipulation sehr anschaulich in seinem Höhlengleichnis und Kant weisst den Weg aus diesem Dilemma durch die Erziehung des Menschen zur Mündigkeit.


Wenn sich sog. gebildete Menschen dem Draufblick anderen Realitäten, geformt in Sozialstrukturen, die dann wohl einfältig ungebildet verdingt werden, verweigern, kommt der irrige Gedanke auf, dass es ohne Relation identische Moralnormen geben muss bzw. kann. Die Höhle wirft je nach subjektiver Positionierung eben subjektive Schatten der Handlungsbasis.

Weblinks:

Platons Höhlengleichnis

Stufen der Erziehung zur Mündigkeit

Freitag, 7. Oktober 2022

Macht Denken unglücklich?

Der Denker Skulptur

Denken ist keine beliebte oder anerkannte Kategorie. Denken macht oft unglücklich. Das klingt zwar absurd, ist aber in den Neurowissenschaften erwiesen. Das Gehirn hört niemals auf zu arbeiten, es rattert und rattert und findet keine Ruhe. Dieses Grübeln ist eng verbunden mit dem Gefühl des Unglücklichseins.

Was können wir dagegen tun? Wir können unser Gehirn durch Unterbrechung dieses Teufelskreises zur Ruhe bringen. Wir schauen uns einen Baum, eine Blume, eine Landschaft oder einen Gegenstand genau an. Diese Technik der Achtsamkeit beginnt auch dort, wo wir bewusst Musik hören oder ein Buch lesen. Viel Medienkonsum und die Präsenz von Internet und Bildern aus dem Fernsehen überfordern unser Gehirn und machen uns unglücklich.

Man ist meistens nur durch Nachdenken unglücklich.

Joseph Joubert, französischer Moralist


Aus Sicht der Hirnforschung hängt das Erleben von Glücksgefühlen sehr eng mit Motivation und Belohnung zusammen. Es gibt im Gehirn ein spezielles Zentrum, das "Belohnungs- und Motivationssystem", welches dafür sorgt, dass wir in bestimmten Situationen Glück empfinden. Wenn wir etwas Schönes erleben oder eine Aufgabe bewältigt haben, signalisiert uns dieses Zentrum: "Gut gemacht!" und es wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. Im Ergebnis fühlen wir uns stolz und glücklich und, besonders wichtig: Wir sind motiviert zu neuen Anstrengungen, um diesen Moment des Glücks wiederholen zu können.

Denn ohne viel Anstrengungen lässt sich das Glückssystem auch durch Alkohol oder Drogen stimulieren. Das heißt eine Sucht gaukelt uns Glück vor, sie bedient sich der gleichen Mechanismen wie das Glückssystem in unserem Gehirn. Um das Glückssystem anzukurbeln, müssen wir uns nicht mehr anstrengen, es reicht eine Flasche Wein, eine Zigarette oder ein Joint. Das ist das Gefährliche an der Sucht.

Manche Menschen fallen nach einem Hochgefühl des Glücks in ein Loch, was sich jedoch vermeiden lässt. Das Glückssystem ist auch dazu da, um uns zu motivieren. Wenn wir zufrieden mit einem Erlebnis sind, und das Gefühl des Glücks durchströmt uns, dann wollen wir das wiederhaben. Das spornt uns an zu neuen Leistungen oder neuer Kreativität. Die Entwicklung der Zivilisation ist nur durch dieses biologisch wichtige System vorangetrieben worden. Das Loch nach einem Hochgefühl des Glücks gibt es eigentlich nicht, weil das Gehirn diesen Glückszustand wiederholen möchte.

Samstag, 24. September 2022

Heidegger und das Sein

Martin Heidegger

Martin Heidegger hat die Philosophiegeschichte rekapituliert und diese als Seinsgeschichte gedeutet. In seiner Philosophie hat Heidegger versucht, die „Geschichte des Seins“ zu rekonstruieren, um zu zeigen, wie die verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte von unterschiedlichen Seinsvorstellungen beherrscht wurden. Sein Ziel ist es, die ursprüngliche Erfahrung des Seins wiederzugewinnen, die im frühen griechischen Denken vorhanden war und von späteren Philosophen verdeckt wurde.

Friedrich Hölderlin

Hölderlin sei der Erste gewesen, der erkannt hatte, dass diese eine Seinsgeschichte ist. Ihm komme daher die geschichtliche Rolle zu, nach der Abkehr von der Metaphysik die „Nähe und Ferne der gewesenen und künftigen Götter zur Entscheidung gestellt“ zu haben.

Heideggers Rekapitulation der Philosophiegeschichte und ihre Deutung als Seinsgeschichte fasst den Beginn der Philosophie als Verfehlung auf. Zwar habe sich dem frühen griechischen Denken das Sein in unterschiedlicher Weise entborgen, allerdings so, dass dieses Entborgene fortan das Maß für das menschliche Denken und Handeln abgab.

Wesentlich war dabei eine Auffassung des Seins als Vorhandenheit, Gegenständlichkeit, als Objekt für ein Subjekt, welche letztlich in der technischen Herausforderung der Welt mündete.

Laut Heidegger geriet dabei die Tatsache in Vergessenheit, dass sich das Sein in dieser Weise entborgen hat. Diese Seinsvergessenheit oder auch Seinsverlassenheit bestimme als Grundzug des Denkens die abendländische Geschichte, gleichsam ihr Schicksal oder ihr Geschick: „Indes befällt die Vergessenheit als anscheinend von ihm Getrenntes nicht nur das Wesen des Seins. Sie gehört zur Sache des Seins selbst, waltet als Geschick seines Wesens.“


Literatur:

Sein und Zeit
Sein und Zeit
von Martin Heidegger

Montag, 19. September 2022

Nationalstolz von Arthur Schopenhauer


»Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.«

Quelle:

»Parerga und Paralipomena, Aphorismen zur Lebensweisheit«, Von dem was einer vorstellt. pp. 360

Samstag, 17. September 2022

»Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« ist ein sozialphilosophisches Hauptwerk dieses Jahrhunderts

Karl Popper



»Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« ist ein sozialphilosophisches Hauptwerk dieses Jahrhunderts. In Deutschland lange Zeit unterschätzt bzw. absichtsvoll missverstanden, nicht zuletzt durch Diffamierungen aus dem Umkreis der Frankfurter Schule (Adorno, Habermas u.a.), gilt das Werk des Totalitarismus heute selbstverständlich als ein Standardwerk zum Thema Totalitarismus und Geschichtsphilosophie.

Popper versteht unter offenen Gesellschaften die diversen Formen der Demokratie, vom klassisch-demokratischen Athen bis hin zu den modernen Gesellschaften der "western civilization", im Unterschied zu den geschlossenen (statischen) Gesellschaften der Stammeskulturen, der antiken Diktaturen und Tyranneien, bis hin zu den diktatorischen Regimen unseres Jahrhunderts.

Der Philosoph Karl Popper hat sein Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« aus dem Jahr 1945 als Antwort auf den Faschismus konzipiert. Darin rechnet der Philosoph detailliert mit den Gedankensystemen von Platon, Hegel und Marx ab, die seiner Meinung nach totalitäre Systeme theoretisch begründet und praktisch befördert haben.

Das Werk ist aus seiner Zeit heraus zu verstehen, in der es entstanden ist. Von 1939 bis 1942, Anlass war der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich, hat Popper an den beiden Bänden der offenen Gesellschaft geschrieben: Gegen Hitler und Stalin; gegen Nazismus und Kommunismus. Vom Zauber Platons, dessen idealstaatliche Vorstellungen Popper im ersten Band seiner "offenen Gesellschaft" vehement kritisiert und als totalitäre Version des Historizismus (eine Philosophie der unangemessenen Sinnndeutung des historischen Geschehens) entlarvt, spannt er den Bogen zu den "falschen Propheten" der Neuzeit, die er vor allem in Hegel und Marx sieht, den "orakelnden Philosophen" (Popper).

»Band 2 Hegel, Marx und die Folgen« kündet von den falsche Propheten der Philosophie. Hegel ist für Popper ein philosophischer Falschspieler, der immer wieder "mit Hilfe seiner zauberkräftigen Dialektik wirkliche, physische Kaninchen aus rein metaphysischen Zylindern" holte. Gegen Ende seiner knappen, aber heftigen Ausführungen zur Hegelschen Philosophie räumt Popper allerdings ein: "Viele meiner Freunde haben mich kritisiert wegen meiner Einstellung zu Hegel und wegen meiner Unfähigkeit, Hegels Größe zu sehen. Sie hatten damit natürlich völlig recht, denn ich war wirklich unfähig, sie zu sehen. (Ich bin es noch immer.)"

Der Hauptteil dieses zweiten Bandes der offenen Gesellschaft ist Karl Marx zugedacht: Marxens Methode, Marxens Prophezeihung, Marxens Ethik. Wobei Popper, bei aller respektvollen Würdigung der marx'schen Analysen, vor allem dessen ökonomistischen Determinismus als eine besonders dogmatische Form des Historizismus kritisiert. Die darin angeführten Zitate sind teils hoch amüsant, teils erschreckend und belegen, dass auch (oder gerade) große Denker sich großen Unsinn aus den Fingern saugen können.

Literatur:

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
von Karl Popper

Religionen als menschengemachte Fallen

Die philosophische Hintertreppe: 34 großen Philosophen in Alltag und Denken
Die philosophische Hintertreppe:
34 großen Philosophen in Alltag und Denken

Der ehemalige Professor für Philosophie Wilhelm Weischedel (1905 - 1975), der an der Universität Tübingen und später an der FU in Berlin unterrichtete, bietet mit seiner "Philosophischen Hintertreppe" einen ungewöhnlichen Zugang zu den Werken der bekanntesten Philosophen des Abendlandes.

Statt staubtrockene Einführungen, plagiatorische Zusammenfassungen oder anbiederisch kommentierende Interpretatiönchen zu den Schriften der großen Denker zu verfassen, erstellte er lieber eine leserfreundliche Sammelung anekdotischer Daten oder witziger Merkwürdigkeiten des Privatlebens neben den monumentalen Thesen der Seinsdeutung der Herren Kant und Co. zusammen. Das Ergebnis ist ein unterhaltsames, mitunter sogar launiges Buch, das zugleich als leichte und dennoch gute Einführung in das Werk jener systematisch das vernommene Sein Deutenden dienen kann.

Religionen sind menschengemachte Fallen. Ein wahrer, wacher Philosoph darf da nicht hineintappen aus einer zwar menschlich verständlichen, aber einem freien Geist nicht zuträglichen Bedürftigkeit nach fragwürdigem Halt. Wilhelm Weischedel ergänzt das noch:"Aufgabe der Philosophie ist es, dafür zu sorgen, daß das Denken der Falle entgeht, die ihm die Sprache stellt".


Literatur:

Die philosophische Hintertreppe: 34 großen Philosophen in Alltag und Denken
Die philosophische Hintertreppe: 34 großen Philosophen in Alltag und Denken
von Wilhelm Weischedel

Dienstag, 13. September 2022

Ludwig Feuerbach 150. Todestag


Ludwig Feuerbach

Ludwig Feuerbach starb vor 150 Jahren am 13. September 1872 in Schoppershof bei Nürnberg. Ludwig Feuerbach war ein bedeutender deutscher Philosoph des 19. Jahrhunderts.

Er war ein deutscher Philosoph, dessen Religions- und Idealismuskritik bedeutenden Einfluss auf die Bewegung des Vormärz hatte und einen Erkenntnisstandpunkt formulierte, der für die modernen Humanwissenschaften, wie zum Beispiel die Psychologie, grundlegend geworden ist.

Ludwig Feuerbach war ein leidenschaftlicher Reformator der Philosophie, der nicht das reine Wissen, sondern den ganzen Menschen in das Zentrum seines Bemühens stellte. Dieser Denkansatz löste einen Erdrutsch in der geistigen Landschaft der Restaurationszeit aus. Die klassische deutsche Philosophie brach buchstäblich zusammen, und Feuerbach wurde zur intellektuellen Leitfigur des deutschen Vormärz, bevor ihn andere für sich vereinnahmten: die Marxisten, die zumeist nur interpretierten, was Marx und Engels über ihn gesagt hatten, und die Theologen, denen er der sprichwörtliche Pfahl im Fleische blieb.

Ludwig Feuerbach wurde auch bekannt als Philosoph, der eine materialistische Sicht der Welt hatte und der die Dialektik in seinen Betrachtungen als Denkmodell einführte.

1823 begann er in Heidelberg das Studium der Theologie. 1824 ging Feuerbach nach Berlin, wo er gegen den Widerstand des Vaters das Studienfach wechselte: Zwei Jahre lang hörte er sämtliche Vorlesungen, die Hegel in dieser Zeit hielt, die Logik sogar zweimal.

Im Juni 1828 promovierte er in Philosophie, am Ende desselben Jahres folgte die Habilitation. Wenige Wochen danach begann er, als unbesoldeter Privatdozent in Erlangen zu lehren.

Feuerbach griff mit einer Reihe von Rezensionen und Aufsätzen, von denen einige zu seinen wichtigsten Schriften zählen, so »Zur Kritik der positiven Philosophie« (1838) und »Zur Kritik der Hegelschen Philosophie« (1839), in die geistig-ideologischen Auseinandersetzungen der Restaurationszeit ein.

Die heftige Polemik gegen die als rückwärtsgewandt und unredlich kritisierte „Christentümelei“ der Restauration veranlasste ihn, dem Phänomen Religion auf den Grund zu gehen. Zwei Jahre lang, von 1839 bis 1841, arbeitete er am Hauptwerk »Das Wesen des Christentums«. Das Werk erschien im Frühjahr 1841 im Verlag Otto Wigand in Leipzig und machte Feuerbach schlagartig berühmt.


"Zu einem vollkommenen Menschen

gehört die Kraft des Denkens,

die Kraft des Willens,

die Kraft des Herzens."





Feuerbach deutete in seinem Werk »Das Wesen des Christentums« (1841) die Gedanken Martin Luthers, wenn auch in keineswegs gläubigen Sinn, daß der anch Gottes Ebenbild geschaffene Mensch umgekehrt das Göttliche nach seinem eigenen Ebenbild schafffe. Er erklärte die Religion für einen Traum des Menschen: Was der Mensch Gott nenne, sei das Wesen des Menschen selbst.

Durch seine in der Zeit der Restauration in breiten Kreisen als befreiend empfundene Religions- und Idealismuskritik wurde Feuerbach zur intellektuellen Leitfigur der Dissidentenbewegungen des „Vormärz“.

Ab 1842 erhielt er eine Reihe von Angeboten zur Mitarbeit an Zeitungen und Zeitschriften des oppositionellen Spektrums (so auch von der „Rheinischen Zeitung“). Er nahm keines wahr, eine Absage erteilte er 1843 auch Karl Marx, als dieser ihn für die in Paris erscheinenden (sehr kurzlebigen) "Deutsch-französischen Jahrbücher" gewinnen wollte. Marx ließ allerdings »Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers« im Pariser Vorwärts! abdrucken.

Durch Lektüren und die Bekanntschaft mit einem Handwerksburschen entdeckte Feuerbach auch selbst die frühkommunistische Bewegung, die ihn begeisterte.

1845 erhielt Feuerbach von seinem Verleger Otto Wigand das Angebot, seine Schriften in einer Werkausgabe zu versammeln. Bis 1866 erreichten diese »Sämmtlichen Werke« zehn Bände. Der erste erschien bereits 1846. Feuerbach überarbeitete alle seine Bücher aus den dreißiger Jahren, um der inzwischen vollzogenen Abkehr von der Hegelschen Philosophie Rechnung zu tragen. Auch das inzwischen in zweiter Auflage erschienene Wesen des Christentums unterzog er einer nochmaligen Revision.

Nach dem Ausbruch der März-Revolution 1848 wurde Feuerbach von mehreren Seiten dazu aufgefordert, für das Frankfurter Paulskirchenparlament zu kandidieren. Er unterlag zwar einem örtlichen Advokaten, ging aber dennoch als Beobachter nach Frankfurt.

Seit dem Erscheinen des »Wesen des Christentums« war Feuerbachs Privatleben wesentlich bewegter als zuvor. Er ging häufiger auf Reisen.

Der preußisch-österreichische Krieg 1866 erschütterte Feuerbach zutiefst. Anders als früher verfolgte er jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit das politische Geschehen. Bismarcks Einigungspolitik lehnte er entschieden ab, weil sie auf Gewalt gestützt war und in seinen Augen keine Freiheit brachte, hingegen studierte er den ersten Band von Marx’ »Kapital« kurz nach dessen Erscheinen und begeisterte sich für die in Amerika aufkommende Frauenbewegung.

Feuerbach machte die Religionskritik zu seinem Hauptthema und stellte klar, dass der religiöse Glaube sich überlebt habe und des „denkenden Menschen“ unwürdig sei. Vernunft und Wissenschaft waren zu so unabweisbaren Ergebnissen gelangt, dass es zur Frage der intellektuellen Redlichkeit wurde, ob man noch an religiösen Dogmen festhält. Der Glaube hatte seine einstige Unschuld und Berechtigung verloren, er wurde zur Heuchelei vor sich selbst und der Mitwelt.

Den bedeutendsten und direktesten Einfluss übte Feuerbach auf die Herausbildung der marxschen Philosophie aus. Marx übernahm von ihm nicht nur die Religionskritik, sondern vor allem den anthropologischen Materialismus, der für ihn die theoretische Grundlage bildete.

Ludwig Feuerbach wurde am 28. Juli 1804 in Landshut als Sohn des bedeutenden Rechtsgelehrte Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775 -1833) geboren.


Literatur:

Ludwig Feuerbach: Denker der Menschlichkeit
Ludwig Feuerbach: Denker der Menschlichkeit


Das Wesen des ChristentumsDas Wesen des Christentums


Weblinks:

Ludwig Feuerbach-Biografie - Biografien-Portal www.die-biografien.de


Ludwig Feuerbach-Zitate - Zitate-Portal www.die-zitate.de



Sonntag, 11. September 2022

»Fröhliche Wissenschaft« von Friedrich Nietzsche

Die Fröhliche Wissenschaft


»Die Fröhliche Wissenschaft« - später mit dem Untertitel »la gaya scienza« - ist ein zuerst 1882 erschienenes und 1887 ergänztes Werk Friedrich Nietzsches. Im Frühjahr 1882 entschloss er sich, angesammeltes Material unter dem Titel »Die fröhliche Wissenschaft« neu zusammenzustellen und drucken zu lassen.

Das Werk ist eine Künstlerschrift und stammt aus seiner mittleren Schaffensphase, als es ihm darum ging, in der "Sprache des Tauwinds" traditionelle Wertformen und Denkhaltungen zu überwinden und an die Stelle metaphysisch orientierter Moral und Philosophie die Selbstbestimmung des heiteren »freien Geistes« zu setzen. Eine fröhliche Wissenscaft bedarf des freien Geistes.

Nietzsche dachte wissenschaftlich-induktiv, jedoch nicht im Stil trockener Gelehrsamkeit, sondern unter den Vorzeichen des Künstlerischen. Denn der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen, schrieb Nietzsche bereits in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung. In diesem Sinn will er Wissenschaft auch als »fröhliche Wissenschaft« verstanden wissen - eine, die fähig ist, über sich selbst zu lachen, getreu dem Spruch, den Nietzsche sich über die Haustürwünschte: »Ich wohne in meinnem eigenen Haus,/ habe niemanden nie nichts nachgemacht / Und - lachte noch jeden Meister aus,/ der nicht sich selber ausgelacht.«

Die »Die fröhliche Wissenschaft« ist der unmittelbarste Ausdruck seiner Konzeption des „Künstlerphilosophen“. Wie zum Beweis, betätigt sich darin Nietzsche selbst künstlerisch als origineller Sprachschöpfer.

Sanctus Januarius


Motto zum vierten Buch der »Fröhlichen Wissenschaft«

Der du mit dem Flammenspeere
meiner Seele Eis zerteilt,
ihrer höchsten Hoffnung eilt:
heller stets und stets gesunder,<
also preist sie deine Wunder,
schönster Januarius!

Genua, im Januar 1882



Nietszche wollte keine trockene und steife Wissenschaft, sondern eine heitere dem Leben zugewandete, heitere Wissenschaft zur Entfaltung des freien Geistes. Dieser "freie Geist" ist ein direkter Vorläufer des späteren Zarathustra. Für Nietzsche liegt "Übermut, Unruhe, Widerspruch" in diesem Werk, gleichzeitig ist es »ein jasagendes Buch, tief, aber hell und gütig«.

Das Werk vereint Poetik mit Moralkritik und enthält Gedanken zu unterschiedlichsten Themen in fast 400 Aphorismen verschiedener Länge. Es gilt als abschließendes Werk der „freigeistigen“ Periode Nietzsches.

»Selbst an Abgründen noch zu tanzen“, so hatte Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft unser Leben bejahendes Echo aufgefasst: „Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence.«

Nietzsche hat in seinem Werk »Die fröhliche Wissenschaft« die Wissenschaft von ihrer moralischen Natur her kritisiert. Nietzsche gab mit dem freigeistigen Werk den Anstoss für die Klassiker der Wissenschaftskritik wie z.B. Foucault.


» »Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwahrend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unter? irre werinicth wei druch ein unendliches Nichts! ... Gott ist tot!««


Ferner stellt Nietzsche hier auch die Frage nach dem Kerngehalt und dem Wert von Wissenschaft überhaupt, und das nicht in der Sprache des Wissenschaftlers.

Literatur [ >> ] :

Die Fröhliche Wissenschaft
Die Fröhliche Wissenschaft
von Friedrich Nietzsche

Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft.
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft.
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari

Samstag, 10. September 2022

Frankfurter Schule

Frankfurter Schule

Die Frankfurter Schule steht für ein Spektrum von Intellektuellen, die langfristig oder zeitweilig dem 1924 in Frankfurt am Main gegründeten Institut für Sozialforschung und dessen Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft verbunden waren.

Als Frankfurter Schule wird eine Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen bezeichnet, die an die Theorien von Hegel, Marx und Freud anknüpfte und deren Zentrum das 1924 in Frankfurt am Main eröffnete »Institut für Sozialforschung« war. Dazu gehören Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Jürgen Habermas, Herbert Marcuse und Erich Fromm, Oskar Negt und Axel Honneth. Sie werden auch als Vertreter der dort begründeten »Kritischen Theorie« begriffen.


Die Bezeichnung »Kritische Theorie« geht auf den Titel des programmatischen Aufsatzes »Traditionelle und kritische Theorie« von Max Horkheimer aus dem Jahre 1937 zurück. Als Hauptwerk der Schule gilt das von Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 bis 1947 gemeinsam verfasste Buch »Dialektik der Aufklärung«, dessen Essay-Charakter sie mit dem zurückhaltenden Untertitel »Philosophische Fragmente« bezeichneten.


In der Frankfurter Schule versammelten sich undogmatische Marxisten, wertkritische Kapitalismuskritiker, die davon ausgingen, dass in der marxistischen Orthodoxie kommunistischer Parteien oft nur noch eine beschränkte Auswahl der Ideen von Karl Marx wiederholt werde und speziell die philosophischen Implikationen ignoriert würden. Vor dem historischen Hintergrund des Scheiterns der Revolutionen der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg und des Aufstiegs des Nationalsozialismus in einer zivilisierten Nation begannen Horkheimer und Adorno die Marx'schen Gedanken daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie zur Analyse von sozialen Verhältnissen geeignet seien, wie sie zu Marx’ Lebzeiten noch nicht bestanden hatten. Dabei griffen sie auf die Ergebnisse anderer zeitgenössischer wissenschaftlicher Disziplinen zurück. Von besonderer Bedeutung waren hierbei die Soziologie Max Webers und die Psychoanalyse Sigmund Freuds, wobei letztere als Mittler zwischen Basis und Überbau eintrat.

Die Frankfurter Schule verbindet Ideologiekritik mit Gesellschaftskritik unter Verwendung der Dialektik als Methode.

Die Betonung der kritischen Komponente der Theorie entsprang den Bemühungen, die Grenzen des Positivismus, des Dialektischen Materialismus und der Phänomenologie zu überwinden. Die Frankfurter Schule griff hierzu auf die kritische Philosophie Kants und seiner Nachfolger im deutschen Idealismus zurück. Insbesondere Hegels dialektische Philosophie mit ihrer Betonung von Negation und Widerspruch als inhärenten Eigenschaften der Realität war dabei von Bedeutung, zumal seit der Veröffentlichung der Marxschen ökonomisch-philosophischen Manuskripte und seiner Deutschen Ideologie in den 1930er Jahren, die Kontinuität seines Denkens mit Hegel offenbar wurde. Hier schlossen die Frankfurter an Georg Lukács an.

Der erste Forschungsschwerpunkt bestand in der Untersuchung sozialer Phänomene, die vom klassischen Marxismus als Teil des Überbaus oder der Ideologie angesehen werden: Persönlichkeit, Familie, Autoritätsstrukturen (die erste Veröffentlichung des Instituts trug den Titel »Studien über Autorität und Familie«) und die Bereiche Ästhetik und Massenmedien. Die Studien sahen mit Sorge auf die Möglichkeit des Kapitalismus, die Voraussetzungen eines kritischen, revolutionären Bewusstseins zu zerstören.

Die Auseinandersetzung mit dem Wesen des Marxismus selbst bestimmte den zweiten Schwerpunkt des Instituts. Diesem Zusammenhang entsprang das Konzept einer kritischen Theorie.

Die zweite Phase der kritischen Theorie der Frankfurter Schule kristallisiert sich in zwei Werken, die zu Klassikern des 20. Jahrhunderts wurden: Die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno sowie die »Minima Moralia« Adornos. Beide Werke entstanden während des Exils der Autoren in den USA zur Zeit des Nationalsozialismus. Obwohl beide an der marxistischen Analyse festhalten, zeichnet sich in den Werken eine Akzentverlagerung der Kritischen Theorie ab. Aus der Kritik des Kapitalismus, wie sie Marx leistete, wird zunehmend eine Kritik der reinen Naturbeherrschung und ihrer philosophischen Vordenker.

Horkheimer und Adorno kehrten die Aufklärung gegen sich selbst, zerlegen sie und zeigen ihre dunklen und dunkelsten Seiten. Sie sagen nicht nur, moderner Fortschrittsglaube sei kalt und würde zu Katastrophen führen, sie zeigen auch sehr genau, weshalb dem so ist und wo bereits am Anfang der Aufklärung, als sie nach und nach die Mythen ablöste, ihre Grundproblem verankert liegt.

In den 1960er Jahren erhob Jürgen Habermas die erkenntnistheoretische Diskussion in seiner Schrift »Erkenntnis und Interesse« auf eine neue Ebene. Er identifizierte kritisches Wissen als auf Prinzipien beruhend, die sich sowohl von denen der Naturwissenschaften als auch der klassischen Philologie durch ihre Orientierung an Selbstreflexion und Emanzipation unterschieden. Damit gab er den Versuch der alten Frankfurter Schule auf, diesen Momenten in der Vernunft überhaupt einen Ort zuzuweisen.

Literatur:

Dialektik der Aufklärung
Dialektik der Aufklärung
von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

Die Frankfurter Schule
Die Frankfurter Schule
von Rolf Wiggershaus

Geschichte der Frankfurter Schule
Geschichte der Frankfurter Schule
von Emil Walter-Busch