Montag, 30. Januar 2023

Nietzsche und Hitler - Deutsche Wahlverwandschaften

Was ich gedacht hahe, hat noch niemand
vor mir gedacht! - Ich bin Dynamit! - hatte
Nietzsche einst in prophetischer in Weissagung zur
philosophischen Wirkung seiner Gedankengutes vorausgesagt. Der Donnerschlag seiner
Philosophie blieb nicht aus - schon gar
nicht, wenn jemand so gründlich zertrümnrert
wie Nietzsche. Ein bedeutender
Jünger war der deutsche Diktator Adolf
Hitler, der sich an Nietzsches Philosophie
oder was er davon zu verstehen glaubte,
weitaus mehr als nur gedanklich ereiferte.

Die Wahlverwandschaft zwischen Nietzsche
und Hitler erstreckt sich auf eine prägnante
Beziehung: Nietzsche als der Künder und
Denker und Hitler als Täter und dessen
Testamentsvollstrecker. Den Gedankensturm,
den der unzeitgemäße Philosoph entfacht hatte,
setzte Hitler in einen zeitgemäßen Tatensturm um.

In der Weltgeschichte würde eine solche
Wahlverwandschaft in ihrer Konsequenz
auf keinen anderen Diktator zutreffen. Die
folgende Passage aus der 1888 entstandenen
Streitschrift "Zur Genealogie der Moral"
ließe sich als die Verkündigung des Diktatoren
werten:

Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso
vom bisherigen Ideal erlösen wird als von
dem, was aus ihm wachsen mußte, vom
großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom
Nihilismus, dieser Glockenschlag des
Mittags und der großen Entscheidung, der
den Willen wieder freimacht, der der Erde
ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung
zurückgibt, dieser Antichrist und Äntinihilist,
dieser Besieger Gottes und des
Nichts - er muß einst kommen ...

Die Prophezeihung ging tatsächlich in
Erfüllung: In Italien kam zunächst 1922 der
selbsternannte »Duce« Mussolini 1 als
faschistischer Tribun nach seinem Marsch
auf Rom an die Macht. Auch der spätere
Heilsverkünder Hitler hörte damals die
Botschaft wohl, er hätte - quasi als
Anhänger Zarathustas2 - die prophetische
Ankündigung auch geradezu als persönliche
Berufung auffassen können. Er faßte in
dieser Zeit den hochst unheilvollen
Entschluß, Politiker zu werden.

Ein wesentlicher Aspekt in Hitlers Verständnis
der Philosophie erschließt sich aus
dem von Nietzsche geprägten Begriff "Der Wille zur Macht". Mit Willensstärke gründete
Hitler die nationalsozialistische Partei
als Instrument der politischen Agitation,
mit deren Hilfe der begabte Redner Hitler,
bedingt durch die Krise der Weimarer
Republik, zur politischen Macht kam. Hitlers
Werdegang - hierin hatte er Nietzsche
nur allzu wohl verstanden - bis zur
"Machtergreifung" am 30. Januar 1933,
läßt sich geradezu exemplarisch als ,Wille
zur Macht" charakterisieren!

Nietzsche hatte als Philosoph keine klar
umrissene Vorstellung von der Ausübung
der Macht. Die Demokratie lehnte er
jedoch ab, denn diese bedeutete für
Nietzsche die vorläufig letzte Phase der
völligen Moralisierung, des Doseins eine
Verfeinerung der archaischen
Herrschaftsstrukturen und zugleich eine
Verpöbelung. Die hohe geistige Affinität
der Wahlverwandten beruht auf der
Ablehnung der Demokratie und der
Hinwendung zu einer Herrschaftsform, in
der sich sämtliche Angehörige eines freilich
hierfür ohnehin recht anfälligen Volkes
dem Willen des "Führers" unterzuordnen
hatten.

Nietzsche vernachlässigte wesentliche
Aspekte: nämlich den Zusammenhang von
Macht und Moral und die Legitimation von
Macht - und im Zuge der Machtausübung
letztliclr von Herrschafi. Der Terminus
"Wille zur Macht" klingt allerdings schon
immer etwas wie Verfiihrung zur Diktatur.
Je totaler der Machtanpruch, desto größer
die Gefahr des Machtmißbrauchs. Totaler
Machtanpruch ebnet den Weg in die Diktatur.

Der Machtmensch Hitler verrät in jener Zeit seine durchaus pragmatische
Orientierung. Hitler wurde nach der
"Machtergreifung" und Ubernahme der
Regierungsgewalt von sicherem
Machtinstinkt und feinem Gespür mit
Realittitssinn dafir geleitet, wie man unter
Ausschaltung anderer Parteien sowie der
Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit die erlangte Macht durch
rticksichtslosen Machtgebrauch festigt. Mit
Hilfe des "Ermächtigungsgesetzes" befreite er sich von allen Bindungen an die
Verfassung und von der parlamentarischen
Kontrolle - Hitler vollzog die Umwandlung
des Deutschen Reiches in eine Diktatur.
Mit dem Tode Hindenburgs im August 1934 ist die innenpolitische
Machtkonzentration abgeschlossen: Hitler
ist Führer der Staatspartei, Regierungschef
und Staatsoberhaupt.

Unter der Herrschaft des zum Diktator
emporgestiegenen Adolf Hitler feierte der
"Wille zur Macht" seine glanzvollste
Apotheose3 - die totale Unterordnung unter
den Willen des "Führers«. Die Propaganda
schuf ihren Führer-Kult, der selbst dann
noch strahlte, als es im Reich längst immer
finsterer wurde. Hitler berauschte sich
förmlich an dieser Macht, die nach Max
Weber 4 in der Wahrscheinlichkeit besteht,
daß Befehlen auch gehorcht wird.
Dafür sorgte Hitler durch Übernahme der
Befehlsgewalt über die Reichswehr, welche er auf seinen Namen vereidigen ließ. Als
oberster Befehlshaber der Reichswehr hatte
er sich nun auch die militärische Entscheidung
sgewalt vereinnahmt.

"Das tiefe eisige Mißtrauen, dos der Deutsche
erregt, wenn er zur Macht kommt, ist
inmter noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen
Entsetzens, mit dem jahrhundenelang Europa dem Wüten der
blonden germinischen Bestie zugesehen
hat." 5

Der Einwand, daß der Deutsche ein gestörtes
Verhältnis im Umgang mit der Macht
hat, erwies sich als durchaus berechtigt.
Das Mißtrauen der Westmächte war
allerdings nicht tief genug, um Hitler in
seiner kriegstreiberischen Außenpolitik zu
durchschauen. Sie ließen sich immer
wieder von Hitler beschwichtigen, der
behauptete, keinen Krieg zu wollen und
gaben seinen Forderungen immer wieder
nach.

Erst als Hitler immer weitere Nachschläge
einzufordern begann, setzte er die Westmächte
wter Zugzwang. Mit der Abgabe
von Sicherheitsgarantien für den Fall einer
Verletzung der Neutralilät verbündeter
Mächte endete die Beschwichtigungspolitik.
Der Ausbruch des kommenden Krieges war
nur noch eine Frage der Znit. Da Hitler es
nicht gewohnt war, selber nachgeben zu
müssen, zettelte er den Krieg unter dem
Vorwand eines polnischen Uberfalls auf
deutsches Territorium an. Die Antizipation
dieses kommenden Krieges nahrq. bereits
Nietzsche, der offensichtlich der Uberzeugung
war, daß sich gro§e Politik nur mit
kriegerischen Mitteln realisieren läßt,
gedanklich vor:

'Die Zeit filr kleine Politik ist vorbei: schon
das nöchste Jahrhunden bringt den Kampf
und die Erdherrschart - den Zwang zur
großen Politik." 6

Der Krieg ist die Fonsetzung der Politik
mit anderen Mitteln.7 Der wahre, auf
Angriff und Eroberung gerichtete Charakter
seiner Außenpolitik wurde 1939 mit der
Besetzung der Tschechoslowakei und dem
Angriff auf Polen sichtbar. Der Ausbruch
des 2. Weltkrieges war die logische Folge der systematischen Ausweitung des
Machtbereiches und das Strebens nach
imperialer Hegemonialmacht auf dem
Kontinent. Der nicht zu stillende Machthunger
eines Weltkriegsgeschädigten aus
dem letzten Weltkrieg wurde begünstigt
durch die sich zü seinen Gunsten
verschiebenden realen Machtverhältnisse.
Der aggressive Charakter des äußeren
Expansionsdranges offenbarte sich
zunehmens und verleitete in maßloser Ver-




Gefährlich ist's, den Leu zu wecken! -
Hitler hatte die blonde Bestiee, dieses
symbolhafte Raubtier aus ihrem Käfig
gelassen und diese verursachte in ihrem
freien Lauf Blut, Schweiß und Tränen. Bei
dem lüsternen territorialen Schweifen nach
Beute karnen immer mehr niedere Instinkte
zur Gelturrg verbunden mit der Verherrlichung
von Krieg und Kampf als Gelegenheiten
der Bewährung für die Völker und
für den einzelnen. Der Schaffung werten
Lebens ging die Vernichtung unwerten
Lebens einher und die Schaffung neuen
Lebensraumes führte zu Völkermord und
Rückfall in die Barbarei.

"Gebt nir vier Jahre Zeit, und ihr werdet
Deutschland nicht wiedererkennen." 10
diese ironische Abwandlung des aus der
ersten Regierungserklärung stammenden
Zitats erwies sich in einem zerbombten
Land in ihrer Umkehrung als durchaus
zutreffend.

Auch die Umkehrung eines Nietzsche-
Zitats erwies sich durchaus als zutreffend:
Unter kriegertschen Umständen ftillt der
friedlicher Mensch über seinen Nächsten
her. - Nachdem sich die blonde Bestie im
Krieg an den Grenzen des Kontinents
leidlich ausgewütet hatte und nach der
Kriegswende selbst zur Beute wurde, war
der Weg in die Katastrophe vorgezeichnet.
Woran Hitler in seinem Wahn scheiterte,
ist weder der "Wille zur Macht", noch der
"Wille zur Übelmacht", sondern eher der
"Wille zur Weltmacht".

Im Zuge der Ausübung von Macht und Ma
chtpolitik ist es von entscheidender
Bedeutung, ob das Gewollte sich mit den
Mitteln dazu deckt. Hitler ging jedoch mit
zunehmender Machtdauer in diesem vabanque-
Spiel neben dem sicher leitenden
Machtinstinkt auch der dafür nötige
Möglichkeitssinn verloren.

Der vom NS-Ideologen Alfred Rosenberg
gehegte Mythos des 20. Jahrhunderts
verfiel allmählich in Schutt und Asche. Die
große Zeit der Propaganda brach noch
einmal an. Als der Weg in die Katastrophe
bereits vorgezeichnet wff, bestimmten
düstere Endzeitwisionen und der Glaube an
den Endsieg das Bild. Zarathustra sprach,
daß nach einem großen Endkampf alles
Böse vernichtet werden wird. Nach der
Inszenierung dei Untergangs der europäischen
Kultur frel der eisernc Vorhang mit
großem Theaterdonner auf dem Kontinent
nieder. Hitlers Ende gleicht einem dyonisischen
Schicksal.

Mit dem Untergang des Dritten Reiches hat
allerdings die Philosophie Nietzsches in
weltgeschichtlicher Konsequenz ihr letztes
Gefecht noch nicht durchgestanden. Im
Lichte des von Nietzsche formulierten
"Pinzip der ewigen Wiederkehr" erscheinen
dem Betrachter die Dinge ohne den
mildernden Umstand ihrer Vergänglichkeit.
Da jenes unauslöschliche Entsetzen noch
immer für epochales Unbehagen sorgt,
braucht dieser Antichrist und Antinihlilist,
dieser Besieger Gones und des Nichts nicht
wieder zu kommen!

Letztendes hängt es von der Art des
Gedächtnisses ab, wie lang die Schatten der
Vergangenheit sind. Die Leichtigkeit des
§eizs erlaubt im Hinblick auf die Vergangenheitsbewältigung
keine mildernden Umstände
und der tschechoslowakische
Schriftsteller Milan Kundera knüpft den
Gedankengang in der Einleitung seines
Romans fort:

Diese Aussöhnung mit Hitler verrät die
tiefliegende moralische Perversion einer
Welt, die wesentlich auf dem Nichtvorhandensein
der Wiederkehr begründet
ist, weil in einer solchen Welt alles von
vornherein veniehen ist und folglich auch
alles auf zynische Weise erlaubt ist (I,1) -
Was du ererbt hast von deinen Vätern ... -
von Nietzsche eine in Verruf geratene
unzeitgemöle Philosophie und von Hitler
das schlechte Gewissen als Deutscher.

JOA



________________________________________________________

1 Benito Mussolini (* 1883-1945), ital. Staatsmann, gen.
»Duce« (= Führer)
2 Zarathustra - persischer Religionsstifter
3 Apotheose - Vergötterung, Verherrlichung
4 Max Weber (1864-1920), deutscher Soziologe
5 Zur Genealogie der Moral (I,ll)
6 Zur Genealogie der Moral
7 Carl Clausewitz (* 1786 - 183l), deutscher Militärstrarege
"Vom Kriege«
8 Leu - poet. Löwe
9 Blonde Bestio - Raubtiermetapher Nietzsches für den Löwen
lO Zitat aus der l. Regierungserklärung vom 1.2.1933 '

Samstag, 28. Januar 2023

Schellings Philosophie

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der am 27. Januar 1775 in Leonberg im Herzogtum Württemberg geboren wurde, war ein deutscher Philosoph, Anthropologe, Theoretiker der sogenannten Romantischen Medizin und einer der Hauptvertreter des Deutschen Idealismus.

Schelling war der Hauptbegründer der spekulativen Naturphilosophie, die von etwa 1800 bis 1830 in Deutschland fast alle Gebiete der damaligen Naturwissenschaften prägte. Seine Philosophie des Unbewussten hatte Einfluss auf die Ausbildung der Psychoanalyse.

Schellings Philosophie bildet sowohl das entscheidende Verbindungsglied zwischen der kantischen und der hegelschen Philosophie als auch zwischen der idealistischen und nachidealistischen Philosophie. In ihr gehen Vernunftspekulation und über den Idealismus hinausgehende Motive ineinander.

1799 veröffentlichte Schelling seinen ersten Entwurf zu einem System der Naturphilosophie und es entstand das System des transzendentalen Idealismus (1800), in welchem Schelling Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie als gleichberechtigte Grundwissenschaften darstellte.

Dienstag, 24. Januar 2023

100 Jahre "Frankfurter Schule"

Frankfurter Schule IfS feiert 100. Geburtstag

Die "Frankfurter Schule" machte die Stadt in den 1930er-Jahren zum deutschen Zentrum der Philosophie. Nun feiert das Institut, an dem Intellektuelle wie Theodor W. Adorno wirkten, seinen 100. Geburtstag.

Die Goldenen Zwanziger nahmen im Jahr 1923 in Frankfurt gerade Anlauf, da brachte Felix Weil, Erbe eines Getreidegroßhändlers aus Argentinien, nach heutigem Wert etwa 60 Millionen Euro in eine bürgerliche Stiftung ein. Mit dieser Stiftung finanziert er ein außergewöhnliches Projekt: das "Institut für Sozialforschung" (IfS). Dort sollten Sozialismus und die Arbeiterbewegung erforscht werden.

Konkret ging es um die Theorien von Karl Marx, Hegel und Freud und ihre Bedeutung für eine zukünftige Gesellschaft. Durch das IfS wird die Stadt bald zum Zentrum der deutschen Philosophie, die Ideen von Akteuren wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno finden weltweit Anklang.

Die "Frankfurter Schule" erlangte später kulturhistorische Bedeutung, denn sie schuf die geistige Bewegung, aus der die 1968er hervorgingen. Sie wagte sich hinaus in radikale Thesen und propagierte eine Umwälzung der Werte. Die "Frankfurter Schule" wurde erstmals in den sechziger Jahren in die Öffentlichkeit getragen, als sie von der radikalen deutschen Studentenbewegung entdeckt wurde.

Neben Horkheimer zählen Theodor Adorno, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas zu den bekanntesten Vertretern des Instituts. Die heutigen Vertreter der "Frankfurter Schule", welche die Auswirkungen des Kapitalismus auf das soziale Gefüge untersuchen, nennen ihre Arbeit "Kritische Theorie".

Samstag, 14. Januar 2023

Das Sinnproblem in der heutigen Zeit


Häufig wird in der heutigen Zeit die Frage nach dem Sinnproblem gestellt. Die moderne Gesellschaft ist dabei auf seltsame Weise gespalten: Den Menschen scheint der Sinn für ihr Sein auszugehen, vielen erscheint die Welt immer mehr sinnentleert. Nichts ist schlimmer als eine Gesellschaft, welcher der Sinn ausgeht. Technisch gesehen erscheint sie dagegen immer fortschrittlicher. Der Fortschritt ist der Fetisch der modernen Industriegesellschaft. Auf die Frage kann man sicher die verschiedensten Antworten geben.

Das Sinnproblem liegt sicher nicht zuletzt an der Technisierung unserer Welt, denn die Technisierung der Welt bringt mit sich einen gewissen Fortschrittsglauben, mit dem unsere Väter etwa in den Ersten Weltkrieg hineingeschritten sind. Dass dieser Fortschrittsglaube von der Technik zum mindesten nahegelegt wird, ist ja ohne weiteres verständlich. Wenn man sich einmal an die Geistesgeschichte erinnert − sei es an die Geschichte der Dichtung, der Kunst oder der Philosophie −, beobachtet man ja, dass jede Generation von vorne anfangen muss.

Philosophisch gibt es heute im Prinzip keine anderen Problemsätze als bei den Vorsokratikern, und darum sind die führenden Philosophen ja im Wesentlichen auch Interpreten dessen, was etwa frühere Philosophen gesagt haben.

Jede Generation fängt von neuem an. Keiner kann von seinem Vater eine Weltanschauung erben, und selbst wenn er, sagen wir einmal, ebenfalls Christ ist wie seine Eltern, dann ist er es in einem echten Sinne doch nur, wenn er durch eigene Anfechtungen hindurchgegangen ist und jenes Richtunggebende auf seinem Weg erlitten und erfahren hat.

Jede Generation fängt − geistesgeschichtlich − von neuem an, aber technisch ist das anders: Wenn man ein Kriegsschiff sieht oder einen Düsenjäger oder ein Elektronengehirn, dann weiß man: hier sind ganze Generationen von Technikern miteinander am Werk; hier steht einer auf den Schultern des anderen. Keiner fängt neu an.

Während es in der Geistesgeschichte Rückschläge gibt und auch Epigonen und Dekadenz-Erscheinungen eintreten nach Höhepunkten, ist das in der Technik anders. Die Technik kennt keine Rückschläge in diesem Sinne. Sie schreitet voran, und es ist schlechterdings undenkbar, dass nach unseren prachtvollen Autos mit ihrer hohen PS-Zahl und ihrer guten Straßenlage noch einmal plötzlich hochrädrige, stinkende, pannenreiche Benzinkutschen die Straßen erfüllen würden.

Weblink:

Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens - www.der-uebersee-club.de

Samstag, 7. Januar 2023

Aktionismus als Form politischen Handelns

68er Demo


Aktionismus ist ein zulässiger, bewußter Verstoß gegen rechtliche Normen und eine moralische Grundrechtsverletzung. Aktionismus ist eine zeitgemäße Ausdrucksform zivilen Ungehorsams, wenn die Politik keine zufriedenstellende oder unzureichende Lösungen für dringende Probleme herbeiführt. Er ist Ausdruck des Bestrebens, das Bewusstsein der Menschen oder bestehende Zustände durch (provozierende, revolutionäre, künstlerische) Aktionen zu verändern.

Junge Menschen gehen auf die Strasse, um ihrem Protest zum Ausdruck zu bringen und ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen . Sie verstehen sich als Teil einer sozialen Bewegung, die sich für eine gesellschaftliche Veränderung engangiert. Auch für den Protest der Unzufriedenen gilt Kants Devise: »Habe Mut, dich deines Verstandes zu bemühen.« im Hinblick auf die Wahl der zulässigen Mittel des Protestes gegen nicht länger hinnehmbare Zustände.


Der Begriff »Aktionismus« unterstellt betriebsames, unreflektiertes oder zielloses Handeln ohne Konzept, um den Anschein von Untätigkeit oder Unterforderung zu vermeiden oder zu vertuschen. Wenn Politik allerdings keine dringenden Probleme der Zeit lösen kann, ist Aktionismus eine durchaus zulässige Form des Protests. Aktionismus kann auch bedeuten, dass viele Projekte diskutiert oder begonnen, aber nicht zu Ende geführt werden.

Aktionismus ist ein vor allem dem Anarchismus zugeordnetes Konzept direkten, unmittelbaren und nicht durch Stellvertreter geführten Handelns. Aktionismus bedeutet zunächst das eigene, nicht symbolische widerständige Tun. Dabei überwindet der Aktionismus die Mittel-Zweck-Relation. Aktionismus zeigt sich in einer Vielfalt subversiver Handlungen. Die Aktion selbst ist Ausdruck eines subversiven Lebens und wird dabei nicht in Bezug auf sichtbare Auswirkungen auf die politische Ordnung bewertet, da sie für sich als Verschiebung der Machtverhältnisse gewertet werden kann.

Aktionnismus ist letztlich nur dann erfolgreich, wenn bei dem zugrundeliegenden Problem eine bretien Veränderung des Bewußtseins herbeiführt, welche zur Lösung des Problems führt. Im politischen Aktionismus scheint es von Bedeutung, die eigene Person als Widerstandspunkt und Widerstand selbst als Entwicklung alteritärer Lebensverhältnisse zu begreifen und so den Risiken repräsentativer Politik-Konzepte zu entgehen.

Soziale Bewegungen stehen immer wieder vor der sich ewig wiederholenden und immer wieder neue Auseinandersetzung hervorrufenden Frage: Mitmachen und mit dem System leben oder es von außen durch neue Wege verändern? Welcher Weg führt am besten zum Ziel?

Die sich stellende Grundfrage lautet: Ist ein Integrationswilliger erfolgreich, der in das System hinein geht, mitmacht, dessen Positionen damit zunächst akzeptiert und es eventuell schafft, von innen etwas zu verändern? Oder ist es zielführender, autonom eine eigene Position zu entwickeln und sich zu bemühen, diese zu realisieren, ggf. in Protest gegen das System von außen?

Mit dem Strom oder gegen den Strom. Was führt zum Ziel? Ist Aktivismus geeignet, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken oder ist es sinnvoller, sich durch Mitmachen in das System zu begeben?

Der deutsche Philosoph Rudolf Eucken (1846 – 1926) prägte 1915 den Begriff und propagierte einen nach-kantianischen „neuen Idealismus“. Er bezeichnete ihn auch als „schöpferischen Aktivismus“ (ab 1907, Aktivierung der gemeinsamen schöpferischen Kraft aller Menschen). Der Begriff erfuhr bald eine Wandlung und wird verwendet als Bezeichnung für politisches Handeln.

Ende der 1960er und in den 1970er Jahren entstanden mit den ‚neuen sozialen Bewegungen‚ (Frauenbewegung, Schwulenbewegung, Umweltbewegung) vielfältige Formen von Aktivismus. Sie waren oft gekennzeichnet von einer Kombination aus dem Übernehmen als wirksam etablierter Strategien der Organisation und neuen offenen, demokratischen Handlungsformen.

Auf konkrete Missstände und Defizite hinweisen, auf konkrete Veränderung bestehender Verhältnisse hinwirken, mit diesen Anliegen ist Aktivismus eine Form politisches Handelns. Michel Foucault beschäftigte sich intensiv mit dem Machtbegriff und der Analyse von Machtverhältnissen. Er zeigt bei der Frage des politischen Handelns, des Infragestellens vorhandener Machtverhältnisse auf die (seiner Ansicht nach den Machtverhältnissen bereits innewohnenden, „wesenhafter Antagonismus„) Handlungsmöglichkeiten der „widerspenstigen Freiheit„, die Machtbeziehungen ändert.

Foucault sieht Kritik als Mittel, sich von der Macht eines anderen zu befreien und sich frei in Bezug auf eine Sache zu verhalten.

„Aber zugleich muß die Freiheit sich einer Machtausübung widersetzen,
die die letztlich danach trachtet, vollständig über sie zu bestimmen.“


Michel Foucault, Subjekt und Macht, S. 287


Hannah Arendt beschreibt den in ihrem handlungs-orientiertes Politikverständnis wesentlichen Begriff ‚ziviler Ungehorsam‚:

„wenn eine Reihe von Menschen in ihrem Gewissen übereinstimmen und sich diese Verweigerer entschließen, an die Öffentlichkeit zu gehen und sich Gehör zu verschaffen.“

Hannah Arendt, Rede ‚Ziviler Ungehorsam‘, S. 71


Einer der Väter der ‘gewaltfreien Aktion’ als Form politischen Engagements ist der amerikanische Politikwissenschaftler Gene Sharp. Macht ist Sharp zufolge das Ergebnis einer Übereinkunft. Ausüben von Macht setzt das stillschweigende Zustimmen der (oft ‘schweigenden’) Mehrheit voraus.

Wer nicht mehr schweigt, bekommt Werkzeuge in die Hand, Gesellschaft so zu gestalten, dass sie im Interesse der Menschen ist. Mittel der Wahl dazu ist Sharp zufolge die ‘gewaltfreie Aktion’ (Gewaltfreiheit war später auch eines der wesentlichen Merkmale der Aids-Aktionsgruppen ACT UP).

Knut Cordsen setzt den Aktivismus der Gegenwart – von »Fridays for Future« bis zu Greenpeace im Außenministerium – in einen historischen Kontext. Sein Buch ist reich an Lehren, die Aktivist:innen aus ihrer gut 100-jährigen Geschichte ziehen sollten. Dabei wird deutlich, wo Aktivismus in seiner Kultur der Anklage auch über Ziele hinausschießt und das selbst niemals wahrnimmt. Am spannendsten am Beispiel der Twittersphere zeigt Cordsen die blinden Flecken von Aktivisten und Aktivistinnen, ihre Selbstgerechtigkeiten und seziert die Mechanismen sich selbst verstärkender Systeme (Filter Bubbles).

Literatur:

Die Weltverbesserer: Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?
Die Weltverbesserer: Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?
von Knut Cordsen