Montag, 30. Januar 2023

Nietzsche und Hitler - Deutsche Wahlverwandschaften

Was ich gedacht hahe, hat noch niemand
vor mir gedacht! - Ich bin Dynamit! - hatte
Nietzsche einst in prophetischer in Weissagung zur
philosophischen Wirkung seiner Gedankengutes vorausgesagt. Der Donnerschlag seiner
Philosophie blieb nicht aus - schon gar
nicht, wenn jemand so gründlich zertrümnrert
wie Nietzsche. Ein bedeutender
Jünger war der deutsche Diktator Adolf
Hitler, der sich an Nietzsches Philosophie
oder was er davon zu verstehen glaubte,
weitaus mehr als nur gedanklich ereiferte.

Die Wahlverwandschaft zwischen Nietzsche
und Hitler erstreckt sich auf eine prägnante
Beziehung: Nietzsche als der Künder und
Denker und Hitler als Täter und dessen
Testamentsvollstrecker. Den Gedankensturm,
den der unzeitgemäße Philosoph entfacht hatte,
setzte Hitler in einen zeitgemäßen Tatensturm um.

In der Weltgeschichte würde eine solche
Wahlverwandschaft in ihrer Konsequenz
auf keinen anderen Diktator zutreffen. Die
folgende Passage aus der 1888 entstandenen
Streitschrift "Zur Genealogie der Moral"
ließe sich als die Verkündigung des Diktatoren
werten:

Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso
vom bisherigen Ideal erlösen wird als von
dem, was aus ihm wachsen mußte, vom
großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom
Nihilismus, dieser Glockenschlag des
Mittags und der großen Entscheidung, der
den Willen wieder freimacht, der der Erde
ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung
zurückgibt, dieser Antichrist und Äntinihilist,
dieser Besieger Gottes und des
Nichts - er muß einst kommen ...

Die Prophezeihung ging tatsächlich in
Erfüllung: In Italien kam zunächst 1922 der
selbsternannte »Duce« Mussolini 1 als
faschistischer Tribun nach seinem Marsch
auf Rom an die Macht. Auch der spätere
Heilsverkünder Hitler hörte damals die
Botschaft wohl, er hätte - quasi als
Anhänger Zarathustas2 - die prophetische
Ankündigung auch geradezu als persönliche
Berufung auffassen können. Er faßte in
dieser Zeit den hochst unheilvollen
Entschluß, Politiker zu werden.

Ein wesentlicher Aspekt in Hitlers Verständnis
der Philosophie erschließt sich aus
dem von Nietzsche geprägten Begriff "Der Wille zur Macht". Mit Willensstärke gründete
Hitler die nationalsozialistische Partei
als Instrument der politischen Agitation,
mit deren Hilfe der begabte Redner Hitler,
bedingt durch die Krise der Weimarer
Republik, zur politischen Macht kam. Hitlers
Werdegang - hierin hatte er Nietzsche
nur allzu wohl verstanden - bis zur
"Machtergreifung" am 30. Januar 1933,
läßt sich geradezu exemplarisch als ,Wille
zur Macht" charakterisieren!

Nietzsche hatte als Philosoph keine klar
umrissene Vorstellung von der Ausübung
der Macht. Die Demokratie lehnte er
jedoch ab, denn diese bedeutete für
Nietzsche die vorläufig letzte Phase der
völligen Moralisierung, des Doseins eine
Verfeinerung der archaischen
Herrschaftsstrukturen und zugleich eine
Verpöbelung. Die hohe geistige Affinität
der Wahlverwandten beruht auf der
Ablehnung der Demokratie und der
Hinwendung zu einer Herrschaftsform, in
der sich sämtliche Angehörige eines freilich
hierfür ohnehin recht anfälligen Volkes
dem Willen des "Führers" unterzuordnen
hatten.

Nietzsche vernachlässigte wesentliche
Aspekte: nämlich den Zusammenhang von
Macht und Moral und die Legitimation von
Macht - und im Zuge der Machtausübung
letztliclr von Herrschafi. Der Terminus
"Wille zur Macht" klingt allerdings schon
immer etwas wie Verfiihrung zur Diktatur.
Je totaler der Machtanpruch, desto größer
die Gefahr des Machtmißbrauchs. Totaler
Machtanpruch ebnet den Weg in die Diktatur.

Der Machtmensch Hitler verrät in jener Zeit seine durchaus pragmatische
Orientierung. Hitler wurde nach der
"Machtergreifung" und Ubernahme der
Regierungsgewalt von sicherem
Machtinstinkt und feinem Gespür mit
Realittitssinn dafir geleitet, wie man unter
Ausschaltung anderer Parteien sowie der
Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit die erlangte Macht durch
rticksichtslosen Machtgebrauch festigt. Mit
Hilfe des "Ermächtigungsgesetzes" befreite er sich von allen Bindungen an die
Verfassung und von der parlamentarischen
Kontrolle - Hitler vollzog die Umwandlung
des Deutschen Reiches in eine Diktatur.
Mit dem Tode Hindenburgs im August 1934 ist die innenpolitische
Machtkonzentration abgeschlossen: Hitler
ist Führer der Staatspartei, Regierungschef
und Staatsoberhaupt.

Unter der Herrschaft des zum Diktator
emporgestiegenen Adolf Hitler feierte der
"Wille zur Macht" seine glanzvollste
Apotheose3 - die totale Unterordnung unter
den Willen des "Führers«. Die Propaganda
schuf ihren Führer-Kult, der selbst dann
noch strahlte, als es im Reich längst immer
finsterer wurde. Hitler berauschte sich
förmlich an dieser Macht, die nach Max
Weber 4 in der Wahrscheinlichkeit besteht,
daß Befehlen auch gehorcht wird.
Dafür sorgte Hitler durch Übernahme der
Befehlsgewalt über die Reichswehr, welche er auf seinen Namen vereidigen ließ. Als
oberster Befehlshaber der Reichswehr hatte
er sich nun auch die militärische Entscheidung
sgewalt vereinnahmt.

"Das tiefe eisige Mißtrauen, dos der Deutsche
erregt, wenn er zur Macht kommt, ist
inmter noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen
Entsetzens, mit dem jahrhundenelang Europa dem Wüten der
blonden germinischen Bestie zugesehen
hat." 5

Der Einwand, daß der Deutsche ein gestörtes
Verhältnis im Umgang mit der Macht
hat, erwies sich als durchaus berechtigt.
Das Mißtrauen der Westmächte war
allerdings nicht tief genug, um Hitler in
seiner kriegstreiberischen Außenpolitik zu
durchschauen. Sie ließen sich immer
wieder von Hitler beschwichtigen, der
behauptete, keinen Krieg zu wollen und
gaben seinen Forderungen immer wieder
nach.

Erst als Hitler immer weitere Nachschläge
einzufordern begann, setzte er die Westmächte
wter Zugzwang. Mit der Abgabe
von Sicherheitsgarantien für den Fall einer
Verletzung der Neutralilät verbündeter
Mächte endete die Beschwichtigungspolitik.
Der Ausbruch des kommenden Krieges war
nur noch eine Frage der Znit. Da Hitler es
nicht gewohnt war, selber nachgeben zu
müssen, zettelte er den Krieg unter dem
Vorwand eines polnischen Uberfalls auf
deutsches Territorium an. Die Antizipation
dieses kommenden Krieges nahrq. bereits
Nietzsche, der offensichtlich der Uberzeugung
war, daß sich gro§e Politik nur mit
kriegerischen Mitteln realisieren läßt,
gedanklich vor:

'Die Zeit filr kleine Politik ist vorbei: schon
das nöchste Jahrhunden bringt den Kampf
und die Erdherrschart - den Zwang zur
großen Politik." 6

Der Krieg ist die Fonsetzung der Politik
mit anderen Mitteln.7 Der wahre, auf
Angriff und Eroberung gerichtete Charakter
seiner Außenpolitik wurde 1939 mit der
Besetzung der Tschechoslowakei und dem
Angriff auf Polen sichtbar. Der Ausbruch
des 2. Weltkrieges war die logische Folge der systematischen Ausweitung des
Machtbereiches und das Strebens nach
imperialer Hegemonialmacht auf dem
Kontinent. Der nicht zu stillende Machthunger
eines Weltkriegsgeschädigten aus
dem letzten Weltkrieg wurde begünstigt
durch die sich zü seinen Gunsten
verschiebenden realen Machtverhältnisse.
Der aggressive Charakter des äußeren
Expansionsdranges offenbarte sich
zunehmens und verleitete in maßloser Ver-




Gefährlich ist's, den Leu zu wecken! -
Hitler hatte die blonde Bestiee, dieses
symbolhafte Raubtier aus ihrem Käfig
gelassen und diese verursachte in ihrem
freien Lauf Blut, Schweiß und Tränen. Bei
dem lüsternen territorialen Schweifen nach
Beute karnen immer mehr niedere Instinkte
zur Gelturrg verbunden mit der Verherrlichung
von Krieg und Kampf als Gelegenheiten
der Bewährung für die Völker und
für den einzelnen. Der Schaffung werten
Lebens ging die Vernichtung unwerten
Lebens einher und die Schaffung neuen
Lebensraumes führte zu Völkermord und
Rückfall in die Barbarei.

"Gebt nir vier Jahre Zeit, und ihr werdet
Deutschland nicht wiedererkennen." 10
diese ironische Abwandlung des aus der
ersten Regierungserklärung stammenden
Zitats erwies sich in einem zerbombten
Land in ihrer Umkehrung als durchaus
zutreffend.

Auch die Umkehrung eines Nietzsche-
Zitats erwies sich durchaus als zutreffend:
Unter kriegertschen Umständen ftillt der
friedlicher Mensch über seinen Nächsten
her. - Nachdem sich die blonde Bestie im
Krieg an den Grenzen des Kontinents
leidlich ausgewütet hatte und nach der
Kriegswende selbst zur Beute wurde, war
der Weg in die Katastrophe vorgezeichnet.
Woran Hitler in seinem Wahn scheiterte,
ist weder der "Wille zur Macht", noch der
"Wille zur Übelmacht", sondern eher der
"Wille zur Weltmacht".

Im Zuge der Ausübung von Macht und Ma
chtpolitik ist es von entscheidender
Bedeutung, ob das Gewollte sich mit den
Mitteln dazu deckt. Hitler ging jedoch mit
zunehmender Machtdauer in diesem vabanque-
Spiel neben dem sicher leitenden
Machtinstinkt auch der dafür nötige
Möglichkeitssinn verloren.

Der vom NS-Ideologen Alfred Rosenberg
gehegte Mythos des 20. Jahrhunderts
verfiel allmählich in Schutt und Asche. Die
große Zeit der Propaganda brach noch
einmal an. Als der Weg in die Katastrophe
bereits vorgezeichnet wff, bestimmten
düstere Endzeitwisionen und der Glaube an
den Endsieg das Bild. Zarathustra sprach,
daß nach einem großen Endkampf alles
Böse vernichtet werden wird. Nach der
Inszenierung dei Untergangs der europäischen
Kultur frel der eisernc Vorhang mit
großem Theaterdonner auf dem Kontinent
nieder. Hitlers Ende gleicht einem dyonisischen
Schicksal.

Mit dem Untergang des Dritten Reiches hat
allerdings die Philosophie Nietzsches in
weltgeschichtlicher Konsequenz ihr letztes
Gefecht noch nicht durchgestanden. Im
Lichte des von Nietzsche formulierten
"Pinzip der ewigen Wiederkehr" erscheinen
dem Betrachter die Dinge ohne den
mildernden Umstand ihrer Vergänglichkeit.
Da jenes unauslöschliche Entsetzen noch
immer für epochales Unbehagen sorgt,
braucht dieser Antichrist und Antinihlilist,
dieser Besieger Gones und des Nichts nicht
wieder zu kommen!

Letztendes hängt es von der Art des
Gedächtnisses ab, wie lang die Schatten der
Vergangenheit sind. Die Leichtigkeit des
§eizs erlaubt im Hinblick auf die Vergangenheitsbewältigung
keine mildernden Umstände
und der tschechoslowakische
Schriftsteller Milan Kundera knüpft den
Gedankengang in der Einleitung seines
Romans fort:

Diese Aussöhnung mit Hitler verrät die
tiefliegende moralische Perversion einer
Welt, die wesentlich auf dem Nichtvorhandensein
der Wiederkehr begründet
ist, weil in einer solchen Welt alles von
vornherein veniehen ist und folglich auch
alles auf zynische Weise erlaubt ist (I,1) -
Was du ererbt hast von deinen Vätern ... -
von Nietzsche eine in Verruf geratene
unzeitgemöle Philosophie und von Hitler
das schlechte Gewissen als Deutscher.

JOA



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1 Benito Mussolini (* 1883-1945), ital. Staatsmann, gen.
»Duce« (= Führer)
2 Zarathustra - persischer Religionsstifter
3 Apotheose - Vergötterung, Verherrlichung
4 Max Weber (1864-1920), deutscher Soziologe
5 Zur Genealogie der Moral (I,ll)
6 Zur Genealogie der Moral
7 Carl Clausewitz (* 1786 - 183l), deutscher Militärstrarege
"Vom Kriege«
8 Leu - poet. Löwe
9 Blonde Bestio - Raubtiermetapher Nietzsches für den Löwen
lO Zitat aus der l. Regierungserklärung vom 1.2.1933 '

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