Mittwoch, 24. April 2019

Immanuel Kant: "Der Mensch ist von Natur böse."

Im April 1792 publizierte Kant in der Berlinischen Wochenschrift den Aufsatz »Über das radikal Böse« in der menschlichen Natur, den er dann als Erstes Stück in seine ein Jahr später erscheinenden Schrift über »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« aufnahm. Das Böse wird darin anthropologisch als Wesen des Menschen und seiner Nautr begründet.

Das Böse bestimmt Kant als Option der menschlichen Freiheit, entgegen den „objektiven Gesetzen der Sittlichkeit“ zu Handeln, die für ihn das Gute bestimmen. Nach Kant ist das Böse radikal, insofern es als Neigung oder „Hang zum Bösen“ in der menschlichen Natur verwurzelt ist, d. h. es hat anthropologischen Rang. Der Hang zum Bösen ist hier der „subjektive[…] Grund[…] der Möglichkeit einer Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze“ (Immanuel Kant: AA VI, 29[1]) und muss selbst als ein „Actus der Freiheit“ (Immanuel Kant: AA VI, 21[2]) verstanden werden, der „dem moralischen Vermögen der Willkür ankleben [muss]“ (Immanuel Kant: AA VI, 31[3]) – sonst ließe sich das Verhalten nämlich gar nicht moralisch bewerten.

"Der Mensch ist von Natur böse."

Immanuel Kant

Der Mensch hat also von Natur einen Hang zum Bösen. Dabei grenzt Kant die Natur des Menschen von seinem allgemeinen Naturbegriff ab (vgl. Immanuel Kant: AA VI, 21[4]). „Die Natur“ meint das Gesamtsystem der Erscheinungen, die durch das Kausalprinzip in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen verbunden sind. Dieser Natur hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft die Möglichkeit transzendentaler Freiheit gegenübergestellt. In der „Natur des Menschen“ oder vielmehr im menschlichen Wesen sind Freiheit und Kausalität miteinander verbunden: Wenn dem konkreten Verhalten ein auf Gründen und Maximen beruhender individueller „Gebrauch“ der transzendentalen Freiheit (Spontaneität) zugrunde liegt, kann es als zurechnungsfähiges Handeln verstanden werden. Mit der Möglichkeit dieses individuellen Gebrauchs enthält die menschliche Natur sowohl die „Anlage zum Guten“ wie den „Hang zum Bösen“.

Diesen Hang zum Bösen bestimmt Kant bereits in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV) und in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS). Kant spricht davon, dass der Mensch in seinem Streben nach Glückseligkeit, der Erfüllung aller Bedürfnisse und Neigungen, ein „mächtiges Gegengewicht“ zum kategorischen Imperativ besitzt. Daraus entspringe „eine natürliche Dialektik“, die er als „Hang“ des Menschen bezeichnet, „wider die Gesetze der Pflicht zu vernünfteln, und ihre Gültigkeit […] in Zweifel zu ziehen“ (Immanuel Kant: AA IV, 405[5]: GMS). Diesen Gedanken greift er in der KpV wieder auf. Dort bestimmt er den Hang als „Selbstliebe“ und „Eigendünkel“, als Neigung des Menschen, „sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen“ (Immanuel Kant: AA V, 47[6]: KpV). D. h. die Selbstliebe mit ihrem Streben nach Glück wird durch die freie Vernunftbestimmung zum unbedingten Gesetz des eigenen Handelns, anstatt des moralischen Gesetzes.

Es sind also nicht die individuellen biologischen Bedürfnisse und persönlichen Neigungen selbst, die den Hang zum Bösen ausmachen, sondern die darüber hinausgehende Neigung der Vernunft, diese subjektiven und nicht-allgemeinen Bestimmungsgründe des Willens mit den objektiven zu verwechseln und ihre Erfüllung zur unbedingten Maxime des eigenen Handelns zu machen. Der kategorische Imperativ ist nun gerade das Gebot, aus objektiven Gründen zu handeln: „[…] handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Immanuel Kant: AA IV, 421[7]: GMS). Die praktische Vernunft besitzt in der „Achtung“ für das moralische Gesetz bzw. für dessen Unterscheidung vom Prinzip der Selbstliebe eine „Triebfeder“, um die Willkür zur Entscheidung für die Umsetzung des moralischen Gesetzes zu bewegen. Nur wenn der Mensch dem moralischen Gesetz folge leistet, ist er nach Kant autonom, d. h. er wird seinem Wesen als Mensch gerecht. Lässt sich der Mensch dagegen von seiner Selbstliebe und dem Streben nach Glück leiten, so ist er fremdbestimmt.

„Dieses Böse ist radical, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjective Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann; gleichwohl aber muß er zu überwiegen möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird.“

– Immanuel Kant: AA VI, 37[8]

Das Böse ist also radikal, weil es ebenso wie die Anlage zum Guten in der Tiefe des menschlichen Freiheitsvermögens wurzelt und damit den „Grund aller Maximen“ verderben kann. Anlage und Hang sind dabei nicht gleichrangig, denn die Anlage zum Guten gehört notwendig zur Möglichkeit des menschlichen Wesens, während der Hang zum Bösen „für die Menschheit zufällig“ (Immanuel Kant: AA VI, 25[9]) ist, d. h. der Hang zum Bösen ist für den Menschen begrifflich nicht wesentlich, obwohl er allgemein zur menschlichen Gattung gehört. Kant unterscheidet nämlich die „Anlage zur Tierheit“, die Menschen als biologischen Lebewesen zukommt, und die „Anlage für die Menschheit“, die die menschliche Natur als vernünftiges Wesen ausmacht, von der individuellen Anlage „für seine Persönlichkeit“. Nur durch letztere ist der Einzelne ein moralischer „Zurechnung fähig[es] Wesen“ (Immanuel Kant: AA VI, 26[10]), also eine Person, die für ihre eigenen Taten individuell verantwortlich gemacht werden kann. Die Anlage für die Persönlichkeit besteht in der „Empfänglichkeit der Achtung für das moralisch Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“ (Immanuel Kant: AA VI, 27[11]).

Ist die Empfänglichkeit für die Achtung nun individuell schwach ausgeprägt, so ist der individuelle Hang zum Bösen, den Kant auch als „Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens“ (Immanuel Kant: AA VI, 30[12]) bezeichnet, sehr stark, wodurch die Anlage zur Menschheit, zur Autonomie, pervertiert wird (vgl. Immanuel Kant: AA VI, 30[13]): statt des moralischen Gesetzes bestimmen individuelle Neigungen und Neigungen der Gattung das Handeln. Durch Mängel auf den anderen Stufen der Anlage wird der Hang verstärkt, nämlich durch die „Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“ und „die Unlauterkeit des menschlichen Herzens“ (Immanuel Kant: AA VI, 30[14]), d. h. besondere biologische Bedürftigkeit und mangelnde Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst. Das Böse ist dabei keine eigene „Triebfeder“, sondern die „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“ (Immanuel Kant: AA VI, 30[15]): Die Achtung für das moralische Gesetz wird in der Bestimmung des Willens der Selbstliebe untergeordnet und damit die „sittliche Ordnung der Triebfedern“ (Immanuel Kant: AA VI, 36[16]) umgedreht.

Böse Handlungen sind nach Kant individuell verschuldet und müssen trotz des allgemeinen Hangs individuell verantwortet werden. Zurechnungsfähig ist aber für Kant nur das, was durch eigene Tat geschieht. Der Hang zum Bösen selbst kann aber nicht das Resultat einer empirischen Handlung sein, weil er als der subjektive Bestimmungsgrund der Willkür definiert wird und daher a priori zu jeder konkreten (empirischen) Handlung sein muss. Kant löst das Problem, indem er eine „intelligible Tat“ (Immanuel Kant: AA VI, 31[17]) postuliert, in der der Mensch seine oberste Maxime festlegt, von der alle anderen Maximen abhängen. Diese hat einen reinen Vernunftursprung und keinen zeitlichen Ursprung und kann, wenn überhaupt, deshalb bloß durch reine Vernunft und ohne alle Zeitbedingungen erkennbar sein. Unter diesem Gesichtspunkt ist jeder Mensch durch die Wahl seiner Maxime entweder gut oder böse. Bei einer empirischen Beurteilung der Handlungen können diese nicht nach den Extremen bewertet werden, sondern fallen in Grauzonen der Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesetz oder der Mischung von Selbstliebe und Achtung (Vgl. Fußnote zu Immanuel Kant: AA VI, 39[18]).

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