Samstag, 16. März 2019

Die neuen Massen auf der Straße

Gelbwesten demonstrieren zum zehnten Mal

Die jüngsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, der „neue Populismus“ und die neuen „Massenbewegungen“ der "Gelbwesten" (den "Gillet Jaunes") in Frankreich und "Fridays for Future"-Jugend-Bewegung in Europa haben die Massen wieder ins kollektive Gedächtnis gebracht.

Das Problem der Massen kannte man bereits, kaum hatte man mit der Bildung des Staates begonnen - also bereits in der Frühantike. Allerdings war das Problem damals vollkommen unter Kontrolle. Bis in das Hohe Mittelalter sind die Massen absolut bewusstlos gewesen, also leicht zu lenken. Erst im Mittelalter ergab der hohe Bauernstand in der europäischen Kultur, verbunden mit der ersten nennenswerten Bildung unter den Massen, die in diesem Fall durch Kirche und noch mehr Kloster erfolgte, zu ersten Aufständen gegen die Macht und Obrigkeit.



Goebbels Rede im Sportpalast am 18.02.1943

Wichtige Aspekte der Masse sind Regierbarkeit, Lenkbarkeit, Verführbarkeit und potentielle bzw. latente Gewaltbereitschaft. Der wesentliche Punkt ist jedoch die Mobilisierbarkeit der Massen für politische Ziele - ein Aspekt, den jede Bewegung, gewiefte Aktivist, Populist, Propagandist oder anderer Träger auf seine Weise zu nutzen weiß, wenn er von den anderen Aspekten fest überzeugt ist - und der aktuell nun auch wieder deutlich zum Tragen kommt.

Ein wichtiges Instrument zur Beeinflussung hierzu sind Propaganda-Reden, basierend auf dem Prinzip "Zustimmung per direkter Akklamation". Verführerische Redner vor Massenpublikum aufretend - dabei die hohe rhetorische Kunst der Manipulation vorführend - werden hier zu geschickten Manipulatoren der Masse, denn die gerade Verführbarkeit birgt ein ungemeines Poential:

Von der Gloriole eines propagandistischen Erwachens mit zartem Licht beschienen, zeigt sich der Himmel in all seinen leichten Farben und im Licht des erwachenden Morgens lässt sich mit verführten Massen politisch buchstäblich alles anstellen , bei Verführung und Erwachen ist der Unterschied zwischen Heil und Unheil ist oft nur ein schmaler Grat - Ein erwachtes Volk ist zugleich auch ein verführtes Volk.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema der Politik und Gesellschaft Europas. Im Zeitalter des Individualismus scheinen sie ihre Anziehungskraft und Gefährlichkeit verloren zu haben. Ein Irrtum. Von neuem bewegen Massen große Teile der Gesellschaft. Sie entstehen mit Hilfe moderner Medien in der Popkultur, in Sport und Konsum, in Protestbewegungen und Revolten, in neuen politischen Formationen und in Flüchtlingsströmen.

Im Unterschied zu den Massen der Vergangenheit bieten sie den Individuen die Möglichkeit, sich eine imaginäre Größe, ihren Äußerungen und Schicksalen eine Öffentlichkeit zu geben. Heute sind die Massen praktisch nicht mehr zu regieren und eben das ist der Unterscheid zwischen den Massen von früher und von heute.

In seinem Werk »Two Treatises of Government« argumentiert Locke, dass eine Regierung nur legitim ist, wenn sie die Zustimmung der Regierten besitzt und die Naturrechte Leben, Freiheit und Eigentum beschützt. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, haben die Untertanen ein Recht auf Widerstand gegen die Regierenden.

Die Kulturgeschichte der Massen ist eine Geschichte der Emanzipation der Massen und reicht an das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Elitäre Denker und Philosophen haben ihre Skepsis vor der Demokratisierung und dem zunehmenden Einfluß der Massen bekundet und vor einer Demokratisierung der Gesellschaft vor dem Hintergrund sich dabei ändernder Herrschaftsstrukturen und -formen gewarnt. Zu den klaren Analytikern der Massen und ihrer Macht gesellten sich Soziologen, Schriftsteller und Vertreter anderer Berufsgruppen.


Als erster beschäftigte sich der französische Arzt Gustave Le Bon 1895 unter dem Eindruck des Zeitalters beginnend mit der Französischen Revolution bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Massen. Damals wurden die Massen noch als Pöbel und Plebs - vor dem es sich zu fürchten galt und als gefährlich für die Gesellschaft empfunden. Er verfasste das Grundlagenwerk der Sozialpsychologie »Psychologie der Massen«. Wer die Psychologie der Massen versteht, kann diese zu seinen Zwecken beeinflussen. Gustave Le Bon beeinflusste nicht nur Sigmund Freud, sondern wurde auch von Politikern und Diktatoren des 20. Jahrhunderts für die Ausarbeitung ihrer Propaganda-Techniken benutzt. Le Bons Wirkung auf die Nachwelt, wissenschaftlich auf Sigmund Freud und Max Weber, politisch insbesondere auf den Nationalsozialismus und seine Protagonisten, war groß.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entdeckte Politker in Europa die Massen und versuchten sie, für ihre politischen Ziele zu vereinnahmen. Ihr politischer Erfolg hing von der Verführbarkeit der Massen ab. Politiker, welche die Massen hinter sich gebracht haben, sind durch die Ansprache der Massen zu Diktatoren geworden - unter deren Regime die Techniken widerum verfeinert wurden.

Elias Canetti soziologisches Hauptwerk »Masse und Macht« erschien im Jahr 1960. Ein Buch, das anthropologische, psychologische, politische und historische (die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit) Aspekte des Phänomens „Masse“ zu integrieren beabsichtigt, führt wohl beinahe zwangsläufig zur Verwirrung des Lesers.

Seit 1925 befasste Canetti sich mit dem Phänomen der Masse, die ihn ängstigte und faszinierte. Ein Schlüsselerlebnis war der Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 für ihn, in dessen Folge blutige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studenten ge­schahen.

Die Forscher Gunter Gebauer und Sven Rücker lösen in ihrem neu erschienenen Buch den Begriff der Masse aus dem Korsett der alten Ideologien und rehabilitieren ihn damit als Erklärungsmodell für sehr aktuelle Phänomene gesellschaftlichen Wandels.

Literatur:


Psychologie der Massen
von Gustave Le Bon

Masse und Macht
Masse und Macht
von Elias Canetti

Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen
Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen
von Gunter Gebauer, Sven Rücker


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