Samstag, 24. November 2018

Dostojewski und die Schuld

Dostojewski

In seinen leidenschaftlichen, abgründigen Romanen begegnet man Ausgestoßenen, Schwachsinnigen, exaltierten Spielern – und vor allem Mördern. Als Meister des metaphysischen Krimis lässt uns der russische Schriftsteller Dostojewski in die Abgründe der menschlichen Natur blicken.

Wir erscheinen darin als gespaltene Wesen, hin- und hergerissen von gegensätzlichen Kräften: Liebe und Hass, Wahrheit und Lüge, Gut und Böse – stets gefangen in Versuchung. Jedes Verbrechen, ob mit oder ohne Gewissensbisse begangen, zieht in der Realität notwendigerweise eine Strafe nach sich. Dostojewski geht sogar noch weiter: Ihm zufolge sind wir alle schuldig. Das Gefühl der Schuld ist nichts Zufälliges, sondern die Grundlage aller Existenz.

Der russische Schriftsteller Dostojewski kannte den Sumpf der Schuld wie seine Westentasche. Er ist 17 Jahre alt, als er vom Tod seines Vaters erfährt – einem niederen Adligen und Alkoholiker, der seine Umgebung gern schikanierte. Vermutlich wurde er von seinen Leibeigenen ermordet; das juristische Verfahren dazu wird jedoch eingestellt. Angesichts dieser symbolischen Leere musste der junge Dostojewski sich fragen, wer die größere Schuld trug: der adelige Vater, der seine Bauern tyrannisierte, oder die Untergebenen, die ihren Herrn hassten? Hat nicht auch er den Tod seines Vaters herbeigewünscht? In einem Brief, in dem er die Ermordung seines Vaters erwähnt, kommt er zu dem Schluss: „Der Mensch ist ein Geheimnis (…) Ich beschäftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich will ein Mensch sein.“

In den folgenden Jahren steht Dostojewski den utopischen Sozialisten nahe und empört sich über die Ungerechtigkeit der Leibeigenschaft, der Zensur und der Willkür des Zaren. Doch seine Überzeugungen werden mit Strafen quittiert. 1849 wird er schließlich verhaftet und zum Tode verurteilt. Am Tage der Hinrichtung selbst wird seine Strafe umgewandelt in vier Jahre Arbeitslager und anschließend sechs Jahre Verbannung nach Sibirien. Am selben Abend schreibt er seinem Bruder: „Noch nie sind mir so reichhaltige und gesunde Vorräte an geistigem Leben aufgekeimt wie jetzt.“ Er hat seine Rettung in dieser Prüfung gefunden, als ob das Verbüßen einer Strafe ihn von einer noch grundlegenderen Schuld befreien würde.

Dostojewskis gesamtes Werk ist durchzogen von der Suche nach einer Antwort auf die Frage der Schuld: Woher kommt sie? Und vor allem: Wie damit umgehen? In „Schuld und Sühne“ stellt Dostojewski die (seiner Ansicht nach vergeblichen) Versuche dar, sich ihrer zu entledigen. Der Protagonist Raskolnikow ist ein stolzer Student, der versucht, „ohne Kasuistik“ und ohne Gewissensbisse zu töten. Er ermordet eine Wucherin und deren Schwester, um ein wenig Geld zu stehlen. Der Roman zeigt Raskolnikows langsamen Weg zur Anerkennung der eigenen Schuld. Dostojewski stellt dabei einige „entschuldigende“ Ideologien seiner Zeit an den Pranger. Eine davon, die sogenannte „Milieutheorie“, spricht jede schlechte Handlung im Namen gesellschaftlichen Leides frei. Doch Dostojewski zufolge müsse „das Laster immer noch Laster genannt“ werden. Er kritisiert auch die Psychiatrie seiner Zeit, die Verbrecher für nicht schuldfähig erklärt mit der Begründung eines „plötzlichen Wahnsinnsanfalls“. Der junge Mörder Raskolnikow hingegen, der sich der Polizei gestellt hat, versucht gar nicht zu entkommen! Dostojewski lehnt jene Theorien ab, die Schuld als situativen Automatismus verstehen, und sieht in der Schuld mehr als nur eine situationsbedingte Verirrung.

Als Dostojewski zehn Jahre später aus Sibirien zurückkehrt, ist er sich seines Erfahrungsschatzes bewusst. Anders als die großen Schriftsteller seiner Zeit hatte er Umgang mit dem einfachen Volk, hat dessen Abgründe und Schönheiten studiert. Er ist davon überzeugt, den Charakter des Verbrechers verstanden zu haben, und spricht von nun an nur noch über den Unterschied zwischen der Unschuld vor dem Gesetz und der inneren Schuld, wenn er in seinen Romanen über intellektuelle Mörder schreibt („Schuld und Sühne“), über Mörder aus Leidenschaft („Der Idiot“), über Menschen, die aus politischen Gründen töten („Die Dämonen“), und schließlich über Vatermörder („Die Brüder Karamasow“). Hatte Dostojewski selbst sich etwas vorzuwerfen? Er hatte einen schwierigen Charakter und seine Feinde haben sich bemüht, ihm die scheußlichsten Verbrechen anzuhängen. Dostojewski, den der Schriftsteller Iwan Turgenew „unseren Sade“ nannte, war Gegenstand hartnäckiger Gerüchte über angebliche sexuelle Gewalt an Minderjährigen.

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