Donnerstag, 16. Mai 2019

Die Forderung nach einem demokratischen Sozialismus


Juso-Chef Kevin Kühnert hat mit seinen Einlassungen über eine Vergemeinschaftung von Automobilkonzernen eine heftige Debatte ausgelöst. Natürlich kann man, wie es viele gerade tun, seine Vorschläge zu Recht als ökonomisch unsinnig wegwischen. Aber sie treffen bei einem Teil der Bevölkerung einen Nerv.

Seine Forderungen nach einem demokratischen Sozialismus sollten deshalb Anlass sein, über den Zustand des Kapitalismus in Deutschland und dem Rest der Welt zu diskutieren. Wer würde sich nicht eine Welt freier Menschen wünschen, die kollektive Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und nicht Profitstreben.

Allein schon die Tatsache, dass überhaupt wieder über die Frage von Wohlstand und Verteilung gesprochen wird, ist zu begrüßen. Man kann dann zu unterschiedlichen Standpunkten kommen, aber darüber muss wieder diskutiert werden. Der neoliberale laissez faire der letzten Jahrzehnte hat wohl nicht gerade zur Stabilisierung der Gesellschaften beigetragen.

Nichts schadet einem Land mehr als ein Mangel an Diskussion über die Zukunft! Mehr Diskussionen über die Frage, wie Wohlstand entsteht und wie er verteilt wird, ist zu begrüßen. Diskussion bildet die Grundlage aller Veränderung. Besonders die Mitte und links davon sollte mehr darüber diskutieren.

Im Grunde ganz banal: Die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft. Wenn Unternehmen und Einzelpersonen obszön große Vermögen ansammeln, die nichts mehr mit unternehmerischer Leistung zu haben, dann darf, kann und soll der Staat eingreifen. Das ist sogar letztlich durch das Grundgesetz und die Landesverfassungen abgesichert. Eigentum ist kein absolutes Recht. Es verpflichtet. Und ganz davon abgesehen: Das letzte Hemd hat keine Taschen.

Die Idee ist, dass im Kapitalismus nur derjenige adäquat handeln kann, der auch die nötige Grundausstattung hat und über die nötigen Eigentumsrechte verfügt. Das Ideal des egoistischen Nutzenmaximierer, der nebenbei zum Wohle der Gesellschaft, zum Gesamtnutzenmaximum, handelt, lässt sich nur realisieren, wenn auch wirklich alle die Möglichkeit dazu haben. Die logische Konsequenz wäre eine stärkere Besteuerung, beziehungsweise - um den Bogen zu Kühnert zu schlagen - eine Kollektivierung der Gewinne bei Unternehmen, um allen auch wirklich die Möglichkeit zu eröffnen.

Der Kapitalismus ist eine Blendung, hätte Elias Canetti gesagt. - Der Wohlstand mag zwar so hoch wie nie sein aber das sagt eben null über die Verteilung aus. Die geht nämlich von unten nach oben. Die Arbeitslosigkeit sinkt nur dank immer mehr prekärer Beschäftigungen.


Der Kapitalismus, der die Freiheit und die Verantwortung des Einzelnen betont, hat den sozialen Frieden bedrohliche Verwerfungen bei Verteilung des Wohlstandes hervorgebracht, welche der Korrektur bedürfen. Der Sozialismus, der die Gleichheit aller Menschen unter Einschränkung der Freiheit betont, hat sich dagegen als nicht zukunftsfähiges Modell erwiesen, da der Staat die Menschen bevormundet hat und den Einzelnen die Initiative abgenommen hat. Der Kapitalismus ist ohne Reformen jedoch auch kein zukunftsfähiges Modell. Die Zukunft eines Gesellschaftssystems hängt von seiner Reformierbarkeit ab, auftretende Mängel bedürfen der Reform. Die Frage ist, wie diese Reformen aussehen werden.

Dialektisch gesehen, stehen die Eigentumsverhältnisse den Möglichkeiten entgegen, die die Produktivkräfte heute zu schaffen imstande sind. Beide sind aber Produkte und essentielle Bestandteile des Kapitalismus. Das heißt, wir können den Kapitalismus nicht reformieren (quasi die Widersprüche abschaffen, ohne den Kapitalismus abzuschaffen), wir können ihn aber auch nur, aus sich heraus überwinden, indem wir ihn an seinen Widersprüchen selbst scheitern lassen, das heißt sie aufdecken und in Widerstand verwandeln.

Jede Gesellschaftsform ist es wert, bei auftretenden Mängeln im Spannungsfeld von Egalität und Freiheit Alternativen für eine bessere Welt bereitzustellen. Kein Gesellschaftskonzept sollte ohne Alternative sein, da eine gesellschaftliche Weiterentwicklung immer eine Alternative eines bestehenden Gesellschaftskonzeptes ist. Der Fortschritt bedingt die Alternative und entwickelt sich aus ihr heraus.

Eine Gesellschaft ist immer reformierbar, wenn der politische Wille dafür vorhanden ist. Auch der Sozialismus war reformierbar. Der "Prager Frühling" hat vor allen Dingen eines bewiesen: der Sozialismus ist durchaus reformierbar, wenn politische Kräfte sich für eine gesellschaftliche Veränderung durchringen können.


"Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert."

Wir müssen uns zudem bewusst sein, dass durch das weltumspannende Netz der Großkonzerne, speziell bei den Finanzkonzernen, extreme Macht konzentriert ist, welche die Demokratie und die Souveränität der Staaten bedrohen. Deshalb können die extremen Auffassungen von Kevin Kühnert ein Anstoß für die längst überfällige Diskussion darüber sein, was wir auf unserem Globus treiben.

Der Übergang zum Sozialismus geht mit vielen Ideen einher, angefangen von betrieblicher Mitbestimmung bis hin zur radikalen Enteignung. Kevin Kühnert wandelt mit seinen Einlassungen auf den Spuren berühmter Vordenker, die über eine Reform des Sozialismus nachgedacht haben. Vordenker eines demokratischen Sozialismus sind der Ökonom und Reformer Ota Sik, der ökonomische Kopf und wichtige Wirtschaftsreformer unter Alexander Dubcek mit seinem wegweisenden Modell einer humanen Wirtschaftsdemokratie und der deutsche Philosoph Rudolf Bahro und der Physiker und Kritiker Robert Havemann. Es geht um einen dritten Weg.

Der Ökonom und Reformer Ota Sik wurde durch seine Arbeiten der Verbindung von Plan- und Marktwirtschaft bekannt. Er bezeichnete sein Modell als „dritten Weg“ und seinen dritten Weg als humane Wirtschaftsdemokratie, wobei die Planelemente gegenüber dem Markt zunehmend in den Hintergrund traten. »Der dritte Weg« von Ota Sik liefert eine marxistische-leninistische Theorie der modernen Industriegesellschaft.

Auf der mikroökonomischen, also betrieblichen Ebene sieht das Konzept einer Humanen Wirtschaftsdemokratie ökonomisch effizient arbeitende, über den Marktdruck den Verbraucherwünschen entsprechende Betriebe vor, die intern so organisiert sind, dass der Produktionsprozess möglichst human verläuft, dass also betriebliche Entfremdung möglichst weit abgebaut wird.

Der "Prager Frühling" hat vor allen Dingen eines bewiesen: der Sozialismus ist durch reformierbar, wenn politische Kräfte sich für eine gesellschaftliche Veränderung durchringen können.

Rudolf Bahro, der Vordenker des Marxismus gehörte zu den profiliertesten Dissidenten der DDR und wurde durch sein sozialismuskritisches Buch »Die Alternative« (1977) bekannt. Auch »Die Alternative« liefert eine marxistische-leninistische Theorie der modernen Industriegesellschaft.


Zudem gilt es noch, die Vereinbarkeit mit der Verfassung zu bedenken:

Ein demokratischer Sozialismus ist mit den in der Verfassung (Grundgesetz) garantierten Eigentumsrechten nicht vereinbar, denn die Garantie des Privateigentums und damit die Garantie der Verfügungsrechte über dessen Nutzung, ist die Grundlage des Kapitalismus, der demokratische Sozialismus fordert jedoch eine Vergesellschaftlichung des Produktivkapitals bzw. die Gründung einer vergesellschafteten Volkswirtschaft als Grundlage einer humanen Wirtschaftsdemokratie .

Leider ist es Vordenkern, Denkern und anderen Geistesgrößen nicht möglich, die dringend notwendige Umgestaltung der Gesllschaft und auch der Wirtschaft als Projekt der Moderne zu begreifen - und dies in Zeiten, wo doch heute als so schick und modern sein muß. - Das Andenken von Alternativen für eine bessere Welt ist dabei auch eine zu stellende Aufgabe für die Zunft der Philosophen. Die Resonanz hierzu fällt vergleichsweise bescheiden aus, denn der verschulte Apparat der Philosophie ist nicht in der Lage, sich dieser verantwortugnsvollen Aufgabe zu stellen.

Philosophen sind keine Mediziner. Wenn Sie Mediziner wären, hätten Sie eine Präferenz für Vorbeugung. In Deutschland allerdings zeigen sich in der Gesellschaft bereits Anzeichen von Erkrankung. Wer jetzt die Probleme der Gesellschaft verniedlicht, befördert den Ausbruch der Erkrankung - bringt den "Patienten" in eine prekäre Lage, wie man auch an einigen unserer Nachbarländer besichtigen kann.

Literatur:

Ota Šik: Der dritte Weg. Die marxistisch-leninistische Theorie und die moderne Industriegesellschaft. Hamburg 1972, Hoffmann und Campe.

Ota Šik: Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein dritter Weg. Hamburg 1979, Knaus-Verlag.

Ota Šik: Ein Wirtschaftssystem der Zukunft, Berlin 1985, Springer.


Weblinks:

Alexander Dubček-Biografie - Biografien-Portal - www.die-biografien.de

Modell einer humanen Wirtschaftsdemokratie - Wikipedia

Blog-Artikel:

»Die Alternative« von Rudolf Bahro

Rudolf Bahro 20. Todestag




Literatur:

Die Alternative
Die Alternative
von Rudolf Bahro

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