Samstag, 7. November 2020

Albert Camus und die Revolte

Albert Camus

Seinem »Mensch in der Revolte« setzte Albert Camus ein Zitat aus Hölderlins »Tod des Empedokles« voraus. Wie Camus war auch Hölderlin ein Licht- und Südensehnsüchtiger.

Empedokles hat sich in den Ätna gestürzt. Camus jedoch, von Algier nach Paris gewechselt, mit den Erfahrungen des Weltkriegs, der Résistance, des Faschismus und des Stalinismus, er setzt in so entzauberter Zeit auf die Revolte. Gegen den Selbstmord als mögliche Flucht. Gegen den (Massen-)Mord als tödliche Frucht der Ismen, der Religionen und Ideologien. Das macht diesen Camus so radikal gegenwärtig. Er ist der philosophische Dichter am Ende nicht der Geschichte, aber am Ende der Ideologien.

Im berühmten »Mythos von Sisyphos«, der wie »Der Fremde« 1942 erschien, war es die Revolte des Einzelnen, die selbst dem nie endenden Bergaufrollen des Sisyphos-Felsen die Würde des Absurden gibt. Die Verbindung von Verzweiflung und Glück. Wobei das Absurde nicht das Sinnlose ist.

In seinem Buch »Der Mensch in der Revolte« wandte sich Camus gegen alle Spielarten eines totalitären Sozialismus – und gegen Sartre, der Stalins Gulag als notwendiges Übel ansah, um die Ideale des Kommunismus zu verwirklichen. Camus entgegnete dem, «dass die menschliche Person über dem Staat steht», und rief gegen ein instrumentelles Denken und Handeln zur Revolte der Humanität auf. Deshalb engagierte er sich in der Résistance, deshalb prangerte er den Terror Stalins an. Und deshalb forderte er nur einen Tag nach den Nürnberger Prozessen 1949 die weltweite Abschaffung der Todesstrafe, während allerorten Blut mit Blut vergolten wurde. In seiner Nobelpreisrede betonte Camus 1957: »Jede Generation sieht zweifelsohne ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiss, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch grössere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern.«

Womit auch ein Klima- und Eisbärschützer am Rande der Arktis oder ein afrikanischer Brunnenbohrer, der heute scheinbar hoffnungslos gegen die Gletscherschmelze oder die Saheldürre ankämpft, seine existenzielle, tätige Würde erhält. Den Heroismus des Einzelnen aber mit der Gemeinschaft zu verbinden, dafür steht die „Revolte“. Doch ihr Wert legitimiert keinen Terror.

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Im Licht des Mittags - www.tagesspiegel.de/kultur

Albert Camus - Welt ohne tieferen Sinn



Der Philosoph als Wegweiser? Es wäre schön, wenn immer alle Wege frei wären. So wie wir gerade Stürme in der Natur erlebt haben, so vergleichbar können auch die Stürme des Lebens sein .Wichtig bleibt jedoch für alle Menschen immer , die Freiheit mittels der Literatur und des Wortes ausdrücken zu dürfen.

Camus Philosophie ist Ausdruck der Existenz des Absurden. Für ihn ist die Absurdität das Schicksal des Menschen. Um im Absurden zu überleben, muss der Mensch dem Leben allerdings einen Sinn verleihen.

Camus Philosophie ist das, was Nietzsche aktiven Nihilismus genannt hat. Der Mensch weiß, daß das Leben sinnlos ist und versucht, dem Leben einen Sinn zu geben.

"Ich glaube weiterhin, dass unserer Welt kein tieferer Sinn innewohnt. Aber ich weiß, dass etwas in ihr Sinn hat, und das ist der Mensch, denn er ist das einzige Wesen, das Sinn fordert. Und unsere Aufgabe besteht darin, ihm seine Gründe gegen das Schicksal in die Hand zu geben."

Es ist ein Pathos des Trotzdem, das sich hier artikuliert und uns Mut zur Gegenwart gibt. Es ist zugleich eine tiefe rettende Beklemmung,

Und gewiss ist es kein Zufall, dass der Verfasser dieser Zeilen alles andere war als ein Griesgram: Albert Camus, dessen mittelmeerische Klarheit sehr wohl um den Zauber wusste, der in der rettenden Benennung liegt.

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Mehr als Rhetorik – Pathos ist ein Quell der Kraft - www.welt.de

Samstag, 31. Oktober 2020

Das schnelle Pferd des Gedankens




Prof. Dr. Wang-Hui in Peking gilt als der "chinesische Habermas". Sein besonderes Interesse widmet er der Rekonstruktion und Verankerung der Phänomene des 21. Jahrhunderts in der 4.000-jährigen Tradition Chinas. Auf dem Hintergrund dieser Vielfalt zeigt sich die Differenz zwischen europäischem und chinesischem Denken, wobei die Worte und Begriffe, auch wenn sie ähnlich oder gleich klingen, etwas höchst Verschiedenes bezeichnen können. Akzeptiert man aber diese Verschiedenheit, entsteht Verständigung.

"Begriffe sind Lebewesen" - In dem Gespräch mit Prof. Dr. Wang-Hui geht es um die Phänomene „Masse“, „Staat“, „Liebe“, „Gemeinwesen“ und „Sprache“. Schon die Namen großer europäischer Philosophen erhalten in der chinesischen Sprache eine interessante Bedeutung. So heißt Karl Marx wörtlich übersetzt „das schnelle Pferd des Gedankens“, Immanuel Kant heißt „der große und körperlich robuste Tugendhafte“, Hegel kann man mit „das tiefe Meer“ übersetzen.

Weblink:

Das schnelle Pferd des Gedankens - www.dctp.tv

Mittwoch, 28. Oktober 2020

Vor 75 Jahren: Sartres neue Definition des Humanismus


Es war der 28. Oktober 1945, als Sartre im »Salle des Centraux« seinen legendären Vortrag über die Klarstellung des Existentialismus hielt. Eine gewaltige Menschenmenge strömte herbei, in der Erwartung, die herbeigesehnten Erklärungen wie allgemeingültige Gesetze verkündet zu bekommen. Die Kasse wurde überrannt, Stühle brachen und eine unvorstellbare Hitze erfüllte den Saal, als Sartre sich nach 15 Minuten den Weg zum Pult gebahnt hatte und mit den Händen in den Hosentaschen seinen Vortrag begann. Die Intention, die dieser Rede zugrunde lag, war die Frage nach dem Wert des Humanismus zu beantworten, dessen Bestimmung aufgrund der grauenhaften Geschehnisse, wie sie durch den zweiten Weltkrieg verursacht wurden, fraglich geworden war.

Jean-Paul Sartre

Sartre hielt es nach dem Krieg für angebracht, den zerbrechlichen Humanismus zu rehabilitieren bzw. neu zu definieren. Des Weiteren galt es umfangreiche Fehlinterpretationen, die über den Existentialismus in Umlauf gekommen waren, klarzustellen und seine negative Konnotation, die im Zusammenhang mit den Begriffen Pessimismus, Quietismus und Verzweiflung stand, zu korrigieren.

Das Sein und das Nichts

Da sein erstes großes Hauptwerk »Das Sein und das Nichts«, in dem er auf 1.000 Seiten seine Philosophie formulierte, zu terminologisch und abstrakt für die Popularisierung seiner Existenzphilosophie war, schraubte er das Niveau in seinem Vortrag so weit herunter, das er einprägsame Sätze wie „Die Existenz geht der Essenz voraus“ oder „Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht“, salonfähig machen konnte. Später bezeichnete er diese Absicht als Fehler, da viele Aspekte, seiner Ansicht nach als zu vereinfacht dargestellt wurden.

Der geschichtliche Augenblick den Sartre wählte, um den Status humanistischer Werte zu bestimmen, da diese sich als äußerst zerbrechlich herausgestellt hatten, war zwar angebracht, jedoch rehabilitierte er diese nicht neu, sondern beseitigte gleich deren Existenz und verkündete, dass es sie nie gegeben habe. Wertvorstellungen wie Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit, stellen Sartre zufolge keine a priori feststehenden Bedingungen dar, sondern hängen von der subjektiven Realisierung ab, durch die wir sie in jeder Situation von neuem verwirklichen. Da Gott als Werteproduzent weggefallen ist, liege es am Menschen die Werte neu zu erfinden bzw. auch über deren Gültigkeit zu entscheiden, so Sartre. Moralische Normen bestehen nicht als kollektive Gegebenheiten, sondern obliegen dem einzelnen Menschen, der erst durch seine Handlungen erkennen lässt, welche Werte in der Welt bestehen sollen.

Der Mensch muss jedoch nicht nur die Werte erfinden, sondern auch sich und seinen Lebensentwurf. Als in die Welt geworfenes Lebewesen, muss der Mensch unentwegt darüber entscheiden, wer er sein möchte und sieht sich daher ständig in einer Situation, in der er über sich wählen muss. Der Mensch besitzt die Fähigkeit zur Transzendenz, also die Möglichkeit sich unablässig zu überschreiten und neu zu definieren. Sartre spricht auch von einem Riss im Sein, der es verhindert, dass wir eben nicht wie ein Stein von einer fertigen Wirklichkeit erfüllt werden, sondern immer wieder aus uns herausgetrieben werden, um uns zu bestimmen. Wir leben in einer ständigen Distanz zu uns selber, die es verhindert, unser Selbst gänzlich zu erreichen und stattdessen uns immer wieder von uns losreißt, wie es Sartre in dem Werk »Das Sein und das Nichts« aufgezeigt hat. Es gibt kein auffindbares „Sich“, das dem Menschen seinen Persönlichkeitskern aufzeigen und ihm ein Kellner-Sein, ein Arzt-Sein oder dergleichen offenbaren könnte. Wir können nur durch unsere Freiheit danach streben uns dieser sich kontinuierlich entfernenden Idealität immer wieder anzugleichen. Eine Übereinstimmung kann uns jedoch nie gelingen. Sartre spricht hierbei von „Unaufrichtigkeit“, um zu verdeutlichen, dass der Mensch ständig in der Verpflichtung ist, sich ein Sein zu verleihen, nur um es im nächsten Augenblick wieder zu verlieren.


Die Existenz geht also der Essenz voraus, eine Klarstellung, die lange Zeit in der Geschichte als unmöglich gehalten wurde. Was einstmals Gott festlegte, liegt nun in den „zur Freiheit verurteilten Menschen“, Doch verträgt der Mensch überhaupt so viel Macht und fühlt er sich nicht vielmehr hoffnungslos überfordert? Bedarf es eine Theorie, die den Menschen als Angst, Verlassenheit und Einsamkeit definiert? Nach Sartre verbleibt dem Menschen keine andere Wahl, da mit dem Ausschalten der Hypothese Gottes auch die hoffnungsverleihende Sinngebung beseitigt wurde. Gabriel Marcel, ein Vertreter des christlichen Existentialismus war diese Ansicht zu radikal und wollte der Autonomie des einzelnen Menschen, durch die Liebe und dem menschlichen Miteinander mehr Hoffnung verleihen.

Philosophisch betrachtet erfährt der Mensch dabei folgende Rechtfertigung:

"Der Mensch ist für sich, sein Tun und Lassen selber verantwortlich. Es gibt oder braucht keine Rechtfertigung ausserhalb des Menschen. Deshalb ist der Existenzialismus ein Humanismus."


Der Existenzialismus entsprach einem Lebensgefühl, das von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, des politischen Widerstands in der Résistance und des Zerfalls traditioneller Wertordnungen und Orientierungen geprägt ist. Es findet seinen Ausdruck in einer besonderen Sensibilität für die Absurdität der menschlichen Existenz, die für diese Generation von Philosophen charakteristisch ist. Sie entspringt dem Gegensatz zwischen dem selbstbewussten, von Hoffnungen erfüllten und in Handlungen sich entäußernden menschlichen Geist und der ihm gegenüberliegenden undurchdringlichen, immanenten Welt, an der sein Streben immer wieder scheitert. Diese Absurditätserfahrung wirft die Frage nach Sinn und Wert des menschlichen Lebens auf.

Doch warum ist der Existentialismus ein Humanismus? Sartre geht es um den Umstand, das das menschliche Sein etwas fortlaufend zu erschaffendes sei. Als alleiniger Gesetzgeber kann der Mensch sich nur dadurch zur Existenz erheben, indem er sich durch die Verwirklichung von Handlungen realisiert. Der Mensch kann demnach nicht als ein Endzweck betrachtet werden, da er sich durch zweckorientiertes Handeln in jeder Situation wieder hervorbringen muss. Weiterhin trägt der Mensch nicht nur für seine Handlungen die Verantwortung, sondern darüberhinaus muss er sich bewusst sein, dass er durch seine getroffene Wahl die Menschheit mitengagiert.

Neu waren Sartres Ansichten nicht. Schon Sören Kierkegaard machte die Angst als eine Grundbefindlichkeit des Menschen aus und auch Martin Heidegger stellte den Menschen als ein kontingentes Lebewesen dar, das sich der Angst geschickt zu verbergen gelernt hat, indem er sich an die Strukturen der Welt verliert. Auch sollte Heidegger mit seinem berühmten »Brief über den Humanismus« sich indirekt wenige Jahre später auf Sartre und seine Ansichten beziehen. Faszinierend wird Sartres Konzept des Existentialismus auch weiterhin bleiben und auch die vielen Missverständnisse werden wohl weiterhin präsent bleiben, da sich der Universitätsbetrieb mittlerweile von den existentiellen Grundfragen weitestgehend verabschiedet hat.

Literatur:

Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943 - 1948
Der Existentialismus ist ein Humanismus
von Jean-Paul Sartre

Weblink:

Jean-Paul Sartre - www.jean-paul-sartre.de

Samstag, 24. Oktober 2020

Ethik des Utilitarismus

Der Utilitarismus (lat. utilitas, Nutzen, Vorteil) ist eine Form der zweckorientierten (teleologischen) Ethik, die in verschiedenen Varianten auftritt. Mit dem Utilitarismus verbindet sich das Glück der großen Zahl. Auf eine klassische Grundformel reduziert besagt diese Ethik, dass eine Handlung genau dann moralisch richtig ist, wenn sie den aggregierten Gesamtnutzen, d.h. die Summe des Wohlergehens aller Betroffenen, maximiert. Neben der Ethik ist der Utilitarismus auch in der Sozialphilosophie und den Wirtschaftswissenschaften von Bedeutung.

Der Utilitarismus war theoriegeschichtlich der Rivale der Theorie des Gesellschaftsvertrages und hatte diese im Laufe des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der politischen Philosophie in den angelsächsischen Ländern weitgehend verdrängt. Während die Vertragstheorie eine politische Ordnung danach beurteilt, ob diese Ordnung aus einer freien Überreinkunft rationaler Individuen hätte hervorgehen können, ist für den Utilitarismus entscheidend, ob eine politische Ordnung dem Wohlergehen der Menschen möglichst förderlich ist. »Das größte Glück (der größten Zahl)!« war das populäre Motto der Utilitaristen.


Der Utilitarismus fordert das Glück der größten Zahl.


Gemeinsam ist beiden Theorien die nicht-religiöse, säkulare Orientierung. Es wird nicht vom Willen übermenschlicher Wesenheiten oder Autoritäten wie Gott, Natur oder Geschichte ausgegangen, die den Menschen die soziale Ordnung vorschreiben, sondern die Rechtfertigung und Kritik politischer Ordnungen wird allein auf menschliche Vernunft gegründet. Außerdem sind beide Ansätze insofern individualistisch, als der Wille bzw. das Wohlergehen der Individuen Bezugspunkt ist und nicht das Schicksal überindividueller Wesenheiten wie Rasse, Volk, Staat oder soziale Klasse.

Philosophiehistorisch wurde der utilitaristische Ansatz erstmals durch Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–1873) systematisch entwickelt und auf konkrete Fragen angewandt. Heute noch ist der Utilitarismus vor allem im englischsprachigen Raum beheimatet. Dabei sah Mill schon die Gefahr, dass der Ausdruck „Utilitarismus“ und seine ursprüngliche Ableitung von dem zentralen Begriff „utility“ leicht den Eindruck erwecken könnten, der Utilitarismus sei an sich kaltherzig und materialistisch. Um derartige Missverständnisse zu vermeiden, wird heute zumeist von „Glück“ oder „individuellem Wohl“ gesprochen.

„Mit dem Prinzip des Nutzens ist jenes Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück derjenigen Gruppe zu vermehren oder zu vermindern, um deren Interessen es geht […] Mit ‚Nutzen‘ ist diejenige Eigenschaft an einem Objekt gemeint, wodurch es dazu neigt, Wohlergehen, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück zu schaffen.“
Jeremy Bentham, »Introduction to the Principles of Morals and Legislation«
Der Utilitarismus ist eine bedeutende Strömung innerhalb der praktischen Philosophie. Utilitaristische Argumente werden häufig angebracht, um Fragen der Sozialphilosophie und insbesondere auch der Ethik nach Generationengerechtigkeit, Abtreibungsrecht und Sterbehilfe zu erörtern. Auch in Zweigen der Wirtschaftswissenschaften und in der sozialen Bewegung des Effektiven Altruismus wird sich auf den Utilitarismus berufen.

Utilitarismus begründet eine Ethik, bei der das Glück der größten Zahl zugrunde liegt. Dem Utillitarismus entgegengesetzt ist die »Ethik der Pflicht« Kants, bei der es nicht auf die Folgen des Tuns ankommt, sondern daß die Taten gut sind und dem moralischen Gesetz sowie dem »Kategorischen Imperativ« entsprechen.


Weblinks:

Utilitarismus - www.philoclopedia.de

Utilitarismus als Begründung der Demokratie - www.ethik-werkstatt.de

Alles über der Utilitarismus - Utilitarismus-Portal - utilitarismus.com


Literatur:

Utilitarianism / Der Utilitarismus
Utilitarianism /Der Utilitarismus
von John Stuart Mill und Dieter Birnbacher

Einführung in die utilitaristische Ethik: Klassische und zeitgenössische Texte
Einführung in die utilitaristische Ethik: Klassische und zeitgenössische Texte
von Otfried Höffe

Im Namen der Freiheit

Michel Onfray

Michel Onfrays Werk »Im Namen der Freiheit: Leben und Philosophie des Albert Camus«

2013 erschien bei Knaus ein knapp 600 Seiten dickes Buch des französischen Philosophen Michel Onfray zu Leben und Philosophie des Albert Camus mit dem Titel »Im Namen der Freiheit: Leben und Philosophie des Albert Camus«. Onfray zeigt auf darin, dass und inwiefern Camus Nietzscheaner ist, Sozialist jenseits der verschlafenen Sozialdemokratie, Kommunist jenseits aller Orthodoxie, Freund und Gegner von Sartre (der zumindest ein Stück weit mit den Nazis kollaborierte). Vor allem aber sei Camus ein Mensch aus den ärmsten Schichten Algeriens gewesen, der das Leben, die Frauen, die Menschen und die Natur liebte, die Düfte, das Mittelmeer und das Salz und die Sonne.

Die Legende. Camus ist weder Philosoph noch Romancier, ein "Second-Hand-Autor", ein "socialiste très rose", ein Kalter Krieger und ein "kleiner weißer Kolonisator". Dagegen stellt Onfray auf über 500 Seiten seine Geschichte des "wahren Camus". Es ist eine Pro-Camus und eine Anti-Sartre-Geschichte. Von Sartre unterscheide sich Camus vor allem durch eine quasi organische Intoleranz gegenüber jeder Ungerechtigkeit. Onfray stellt ziemlich überzeugend und mithilfe kaum ertragbarer Kriegsfotos die Genealogie dieser "Viszeralität" dar: Camus' Kindheit als Halbwaise in einem Armenviertel Algers, die körperliche Rebellion des im Ersten Weltkrieg gefallenen Vaters gegen blutige Gewalt (Kolonialkriege, öffentliche Hinrichtungen), den dulderischen Habitus der analphabeten Mutter, die prügelnde Großmutter, die Geißel Tuberkulose - und die Befreiung durch die republikanische Schule.

Fast genüßlich erinnert Onfray an die bekannte überbehütete bourgeoise Kindheit des kleinen "Poulou" Sartre, dem zufliegt, was Camus sich hart erarbeiten muss, ohne das "Niveau" Sartres je erreichen zu können. Camus verdankt fast alles zwei Lehrern (die sich als Bildungs- und nicht als Kompetenzvermittler sahen, en passant gesagt): seinem Grundschullehrer Germain und seinem Philosophielehrer Grenier. Grenier eröffnet ihm Nietzsche - und Onfray die Möglichkeit einer linksnietzscheanischen Interpretation der frühen Erzählung "Noces à Tipasa". Angesichts des "heidnischen" Paysage von Tipasa (römische Ruinen, überwuchert von duftendem Rosmarin, Strand, Meer, Sonne) entwickelt Camus einen "Discours de la méthode dionyséenne". Es gibt keinen Gott, nur DAS Leben, den Körper, die (freie) Liebe. Man schreibt sein Leben in den puren Augenblick ein, ohne ihn zu verderben durch die Nostalgie des Vergangenen oder die Angst vor dem Kommenden, beschreibt Onfray einen bei Sartre unvorstellbaren Habitus.

Camus entwickelt eine Art "mediterranen Gramscismus", zu dessen Genese auch die (negative) Erfahrung einer fast zweijährigen Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei gehört, mit der ein Camus zwangsläufig brechen muss. Zu stark sind die "mediterranen Lektionen": Gastfreundschaft, Generosität, Vitalität, Mut und Loyalität. Das intransigente Verhalten der Kommunisten im spanischen Bürgerkrieg (Camus Mutter ist spanischen Ursprungs) und in der Kolonialfrage (für algerische Kommunisten gilt er als "Trotzkist") verstärkt die Sympathien mit dem Anarchosyndikalismus. "Der Fremde" und "Der Mythos des Sisyphos", Bücher, die Camus' Ruhm begründen, werden von Onfray als Werke des Übergangs interpretiert: vom "Ja zum Leben" in Richtung "Nein zum Tod".

Ähnlich wie Foucault war Camus einige Zeit Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs, die er als nicht orthodoxer linker Anarcho-Marxist alsbald wieder verließ. Onfray charakterisiert ihn als jemanden. „der sich nicht nur mit Meer, Sonne und Licht vereinen wollte, sondern auch mit der strahlenden Zukunft des Proletariats“ (129), der also nicht orthodoxer Nietzscheaner war, der sich weigerte, irgendeinen Philosophen nachzubeten oder gar anzubeten, der selbst denken wollte und konnte und dessen Denken von Nietzsches Erkenntnis „Gott ist tot!“ fasziniert war.

Nietzsche, der deutsche Philosoph, der sich nicht in erster Linie als Mensch sah, sondern als Dynamit, der das gesamte abendländische Denken ansteckte, dem begeistert zugestimmt wurde, der aber auch wütend abgelehnt wurde. Denn fast alle abendländischen Intellektuellen nach ihm bezogen sich auf Nietzsches Werke, seine philosophischen („Die Fröhliche Wissenschaft“, „Jenseits von Gut und Böse“) und seine literarischen Arbeiten („Also sprach Zarathustra“) sowie Aphorismen. Gleichviel ob sie sturzkonservative BürgerInnen waren, Völkische Nationalisten (Arthur Möller van den Bruck, Georges Sorel), Faschisten/Nationalsozialisten (Bennito Mussolini, Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Martin Heidegger, Ernst Bertram, Ernst Jünger), Anthroposophen (Georg Steiner), Anarchisten (Gustav Landauer, Michael Bakunin, Peter Kropotkin, John Moore) Marxisten (Hegelianer) (Walter Benjamin, Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Georg Lukacs, Ernst Bloch), Literaten (wie Thomas Mann, Gottfried Benn, Stefan George), freie Linke (wie etwa Jacques Derrida, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Felix Guattari, u.a.) oder Bratkartoffel Philosophen (Peter Sloterdijk) oder Feministinnen (Lily Braun) und Künstler (Tommaso Marinettis futuristisches Manifest), sie alle  wurden von Nietzsche angeregt. Und dies in unterschiedlichster und oft in ambivalenter oder gar gegensätzlichster Weise.

Den Hintergrund für diesen Boom bildete natürlich die europäische Aufklärung, die man allerdings nicht auf das Ereignis von 1789 reduzieren sollte, sondern die bereits einige Jahrhunderte davor als sich langsam strukturierender Prozess begann und natürlich auch im 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart andauert. Nietzsche wurde so etwas wie das Sprachrohr sich verdichtender Aufklärung, und seine Rezeption war deshalb so breit und widersprüchlich gestreut, weil Nietzsches Ideen so vielseitig und vielschichtig waren und oft so punktgenau Säkularisierung einforderten, dass sie sich den herrschenden Denksystemen oftmals leicht amalgamieren lassen konnten. Gegen Nietzsches „Tod Gottes“ und die Säkularisierung allgemein erhob sich jedoch ein riesiger Widerstand, der selbst noch in solchen Denksystemen zu hausen begann, die sich gegen die alten Werte des Christentums und gegen die sie vertretenden BürgerInnen wandten, was sogar auch noch bei Nietzsche selbst zu beobachten ist: Sein Tod Gottes hat auch ihm Angst gemacht und seine Akzeptanz dieser Einsicht hat ihn möglicherweise in den Wahnsinn getrieben. Dafür spricht, dass Nietzsche in einer orthodox protestantischen Pfarrersfamilie aufgewachsen war, in der das Wort Gottes Gesetz und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod Gewissheit waren.

Der Philosoph Oliver Flügel-Martinsen hat nachgewiesen, wie selbst bei philosophischen Heroen wie Kant und Hegel der Abschied vom Metaphysischen trotz allen Bemühens scheiterte und ihre Schriften im Kern Zuflucht dazu suchten und diese zu begründen versuchten. Nietzsche und Derrida dagegen gingen von der Ungewissheit des Wissens aus und halten daran auch fest, doch sie befassen sich mit der Frage, wie damit umzugehen sei. Die Antwort lautet:  mit vorsichtigem Philosophieren und, verbunden damit: behutsamen Befragungen. Michel Foucault steuert in eine ähnliche Richtung, indem er die absolute Erkenntnis (Wahrheit) zwar bestreitet, aber nicht die Wahrheiten, die er allerdings als historisch kontingent und  nur als jeweilig und in ständiger historischer und räumlicher Veränderung begriffen sieht.

Das hat dramatische Folgen: Natürlich kann man weiterhin versuchen, in den Glauben zu springen (Kierkegaard); aber Zweifel sind auch dann angebracht, wie zumindest fortschrittliche Kenner der heiligen Schriften wissen. Aber sicher ist: Alle Orthodoxien stehen auf tönernen Füßen, die christliche und die anderer Glaubensrichtungen, also auch die marxistische. Keine(r) kann sicher sein.

Erst wenn der letzte Mensch frei atmen kann, ist das Freiheitsideal erreicht. Das jedenfalls ist die Meinung von Albert Camus.


Weblinks:

Albert Camus - theoretisch libertär, pragmatisch sozialdemokratisch? - www.freitag.de

Im Namen der Freiheit - www.diss-duisburg.de

Michel Onfray - Wikipedia.org

Literatur:

Namen der Freiheit: Leben und Philosophie des Albert Camus
Im Namen der Freiheit: Leben und Philosophie des Albert Camus
von Michel Onfray

Samstag, 17. Oktober 2020

Arthur Schopenhauers Pessimismus

Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauer Denken wurde stark geprägt zum einen von Platon, insbesondere von dem sogenannten "Höhlen-Gleichnis". Dort zeigt sich für ihn eben das "Erkennen", das zugleich ein "anderes Sein" bedeutet. Es ging für Schopenhauer nicht mehr darum die Gegenstände besser zu sehen, sondern in der Sonne zu sein.

Arthur Schopenhauer war Pessimist und er war auch Misanthrop, beiden Einstellung sollten sein Leben prägen und seine Philosophie beeinflussen. Der Pessimismus war eine Schlussfolgerung, die Schopenhauer aus seiner Philosophie, die sehr tiefgründig und weitreichend ist, und durchaus nicht wissenschaftlichen Beweisen entbehrt, wie manche etwa behaupten mögen, gezogen hat, und bloß eine von vielen "möglichen" Schlussfolgerungen.

Was ist denn eigentlich Pessimismus? Der Pessimismus besagt ja bloß: "Der Mensch ist ein nach Glück und Freude strebendes Wesen. Er kann aber Glück und Freude nicht erreichen, weil beides bloß Illusionen sind. Das Böse und das Leid prägt unser aller Existenz, nichts ist gewisser als das Leiden. Daher steht uns von diesem Lebens nichts zu erwarten. Wir müssen uns vom Leben, von jeder Möglichkeit des Lebens befreien."

Diese Aussage gleicht auch der von Buddha, der einst gesagt hat: "Alles ist Leiden. Geburt ist Leiden, Leben ist Leiden, Alter ist Leiden, Tod ist Leiden. Das nicht bekommen, was man will, ist Leiden; dass einem das, was man vermeiden möchte, zuteil wird, ist Leiden. Von Liebendem getrennt sein ist Leiden, usw."

Es ist nichtalles Pessimismus, war trübe ercheint. Als Ausweg aus dem Leid der Menschen sah Schopenhauer, die Kunst, die Musik und Muße an.br />