'Wenn es überhaupt die Aufgabe des Biographen ist, den Denker durch den Menschen zu erläutern, so gilt dies in ungewöhnlich hohem Masse für Nietzsche, denn bei keinem Andern fallen äusseres Geisteswerk und inneres Lebensbild so völlig in Eins zusammen.' (Lou Andreas-Salomé) Laut Anna Freud, Tochter Sigmund Freuds, nahm Andreas-Salomé mit diesem Buch über Nietzsche die Psychoanalyse vorweg.
Auf Grundlage ihrer umfangreichen Textkenntnisse und ihrer intimen persönlichen Erfahrungen mit Nietzsche unternimmt es Lou Andreas-Salomé in diesem Werk, den Denker und Philosophen durch seine Persönlichkeit zu entschlüsseln. Ihr gelingt eine ganz neue und eigene Beleuchtung seines Charakters, seiner Wandlungen und seiner Psyche. Lou Andreas-Salomé ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen, Essayisten und Psychoanalytikerinnen. Ihre persönlichen Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud sind bis heute Gegenstand der Forschung und werden noch immer lebhaft diskutiert.
Lou Andreas-Salomé war nicht nur eine der ersten Freud-Schülerinnen, sie hat auch interessante Bücher aus intensiver Begegnung mit Dichtern wie Rilke oder Philosophen wie Nietzsche geschrieben.
Letzteren lernte sie im April 1882 im Alter von 21 Jahren in Rom kennen, der Philosoph war da 38 Jahre alt und verliebte sich im folgenden Sommer so sehr in die sehr kluge junge Frau, dass er ihr gar einen Heiratsantrag machte, ähnlich wie auch Paul Ree, der Freund Nietzsches. Kurze Zeit waren die drei eine verschworene Gemeinschaft, bis sie sich völlig überwarfen. Nietzsche fühlte sich aber von der Salomé sehr in seinen philosophischen Ansichten verstanden, umgekehrt hatte die junge Russin an ihm einen klaren Geist, der sie in der Kunst der Aphorismen-Dichtung unterrichtete.
12 Jahre später, 1894, veröffentlichte die intime Kennerin der Schriften des 6 Jahre später umnachtet versterbenden Nietzsche mit 33 Jahren dieses Buch über das Lebenswerk des einzelgängerischen und von heftiger chronischer Migräne schmerzgeplagten Philosophen. Lobenswert ist eine sehr detaillierte Kenntnis des Gesamtwerks und der Versuch, darin den roten Faden seiner Gedankenwelt in ihren Wandlungen über auch biografische Abschnitte zu begründen.
Andreas-Salomé legt eine Denk- und Krankengeschichte vor, aus der glaubhaft im kleinsten und intimsten einer von Selbsterforschung angetriebenen Biographie das breiteste und allgemeinste Weltschicksal hervortritt in der Gesamtheit seiner reflexiven Möglichkeiten und Aporien. Am Ende steht, erschreckend und triumphal zugleich, der Gedanke der ewigen Widerkehr. Alle Systeme sind durchdacht, alle Anstrengungen unternommen, alle Sinnsuche vergeblich. Fortschrittsglaube der Wissenschaft und Heilsgeschichte für Erlösungsbedürftige kommen dem Ziel nicht näher. Es gibt kein Ziel. Nur die Kreisbewegung der ewigen Widerkehr.
Das Werk der Salomé ist anstrengend zu lesen, da es bei engen 300 Seiten nur die 3 Abschnitte enthält "Sein Wesen", "Seine Wandlungen" und "Das System Nietzsche". Der Leser hat wenig Chance zum Aufatmen, das macht die Lektüre schwierig. - Immerhin ist das Buch als Einführung in das Werk Nietzsches ganz gut, zumal geschrieben von einer Frau, die diesen schwierigen Menschen aus nächster Nähe kennengelernt hatte.
Literatur:
Friedrich Nietzsche in seinen Werken Taschenbuch von Lou Andreas-Salomé