Samstag, 4. September 2021

Ein Lob auf den Spaziergang

Rousseau spaziergangJean-Jaques Rousseau



»Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken«, hat der Philosoph Jean-Jacques Rousseau einst als Lob der Bewegung im Freien geschrieben. Spazieren gehen geht zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Das ziellose, abschweifende Spazieren fördert den Gedankenfluß und kann ein enormes Geflecht von Gedanken begünstigen.

Spazierengehen - eine bevorzugte Beschäftigung vieler Denker wie Nietzsche und Heidegger - lässt Raum zum freien Denken. Zum Spazierengehen braucht es nicht mehr als den Entschluss dazu. Der Wanderer zieht seine Schuhe an, macht die Tür auf, läuft die Treppen runter und tritt ins Freie. Raus aus den geschlossenen Räumen.
Schnell taucht man in eine andere Welt ein. Vögel zwitschern, die Äste der Bäume streifen das Wasser und die Gedanken können auf Reisen gehen. Draußen ist eine andere Luft, ein Wind, vielleicht der Duft von Linden oder Abgase. Und ein anderes Licht, greller Sonnenschein oder schnell vorüberziehende Wolken. Er überquert ohne groß nachzudenken eine Strasse und ehe er sich versieht, ist er schon abgebogen und ins Freie gelangt. Das Tempo entscheided er ganz allein; mal geht er zügig, mal schlendert er, bleibt stehen, schlägt Haken, schaut sich im Vorübergehen alles an: Straßen, Bäume, Menschen.

Die Ziellosigkeit ist das Prinzip eines jeden Spaziergangs. Wohin der Spaziergänger geht und wie lange, steht ihm völlig offen. Um die volle Freiheit zu haben, spaziert er allein. Nur allein kann er ganz seinen eigenen Impulsen folgen. Ein Gefühl der Leichtigkeit überkommt ihn, ähnlich wie wenn man im Frühling das erste Mal ohne Jacke auf die Straße geht. Er kann jetzt jederzeit tun und lassen, wonach ihm ist.

»Wanderer, gehest du nach draußen, vergiß das gute Wandern nicht.« - Gerade das Spazierengehen an der frischen Luft scheint die für das Denken notwendigen Impulse anzuregen und neue Denkanstöße zu liefern.

Der Wanderer Friedrich Nietzsche unternahm vor 140 Jahren einen Spaziergang, der zu dem wichtigsten Ereignis und Inspiration seines Lebens werden sollte. Nietzsche ging als Wanderer los und kehrte als Erleuchteter nach Hause.

Am Silvaplana See im Oberengadin in der Schweiz ereilte ihn eine Erleuchtung wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Für Nietzsche war dies in einschneidendes Erlebnis. Verzückt von seinem Gedanken erklärte er den mächtigen Felsen am Seeufer, vor dem er stand, zu seinem "Erleuchtungsfelsen".

Surlej-Felsen bei Sils Maria



Mit großem Pathos beschrieb der damals 36-jährige Friedrich Nietzsche den besonderen Moment, den der erleuchtete Philosoph heute vor genau 140 Jahren im schweizerischen Engadin erlebte: "Man muss Jahrtausende zurückgehen, um eine ähnliche Inspiration zu entdecken".


Blog-Artikel:

Friedrich Nietzsches Wanderung, die zur Offenbarung wurde

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