Die gegenwärtige Pandemie ist eine tiefe Krise, welche die Gesellschaft vor ungewohnte und nie gekannte Herausforderungen in ganz unterscheilichen Bereichen stellt. In der jüngeren Geschichte hat es keine solche vergleichbare Herausforderung im Hinblick auf die gesundheitlichen Gefahren gegeben. Gleiches gilt für die aktuellen rigorosen, massiv und flächendeckend freiheitsbeschränkenden staatlichen Maßnahmen. Sie sollen dazu dienen, den exponentiellen Anstieg der Zahl infizierter und erkrankter Personen zu verhindern. Andernfalls könnte das Gesundheitssystem an seine Kapazitätsgrenzen gelangen. Bei rascher Zunahme schwerer Erkrankungsfälle könnte es zu einer Unterversorgung behandlungsbedürftiger Personen kommen – unabhängig davon, ob diese an der durch das neuartige Coronavirus verursachten Lungenerkrankung Covid-19 oder einer anderen Krankheit leiden. Allerdings haben die bereits ergriffenen Maßnahmen schon jetzt unvermeidliche Nebenfolgen für die wirtschaftliche und psychosoziale Lage, und bei besonders vulnerablen Personengruppen auch für deren gesundheitliche Situation.
Der ethische Kernkonflikt besteht in Folgendem: Ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem muss gesichert und zugleich müssen schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft durch die Maßnahmen abgewendet oder gemildert werden. Garantiert bleiben muss ferner die Stabilität des Gesellschaftssystems. Hinzu kommt, dass noch unsicher ist, wannImpfstoffe, Medikamente, Therapien und Testverfahren zur Verfügung stehen werden, die eine nachhaltige Lösung ermöglichen. Das erfordert eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter, die& auch Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung einbezieht. Eine besondere Spannung ergibt sich hierbei aus der unterschiedlichen primären Risikoverteilung:
Einerseits ist nach heutigem Wissensstand bei vielen (vor allem Jüngeren) nur ein relativ milder Krankheitsverlauf zu erwarten; Kinder scheinen sogar kaum gefährdet. Andererseits besteht für bestimmte Risikogruppen (z. B. ältere Personen, Menschen mit Begleiterkrankungen bzw. chronisch Kranke) ein deutlich erhöhtes Mortalitätsrisiko. Dennoch nehmen die Infektionen unter den Kindern und Jugendlichen mit zunehmender Dauer der Pandemie deutlich zu.
Mit Blick auf die Spezifika des neuen Erregers, die Risikoverteilung und die zu erwartenden Belastungen des Gesundheits- und insbesondere des Krankenhaussystems erscheint eine Strategie des „Laufenlassens“ unverantwortlich, die in der Hoffnung, die Epidemie werde zum Stillstand kommen, sobald genügend Personen die Infektion überstanden hätten (Gemeinschaftsschutz, auch „Herdenimmunität“), allein auf die rasche Verbreitung des Virus setzte. Anders zu beurteilen ist möglicherweise ein Vorgehen, das eine solche Strategie mit einem weitreichenden abschirmenden Schutz vulnerabler Gruppen verbindet. Aber auch dabei ist zu bedenken, dass es gleichwohl zu einer Überlastung des Gesundheitssystems mit Gefahren für Leib und Leben aller kommen kann.
Aus ethischer Sicht sind – ungeachtet der hier nicht zu erörternden, durchaus strittigen Frage, ob hinreichende verfassungs- und einfachgesetzliche Grundlagen existieren – damit jedenfalls zur Zeit Freiheitsbeschränkungen vertretbar. Auch erheblich belastende Begleitschäden sind zumutbar. Je länger die Pandemie andauert, desto stärker sind allerdings nicht nur die unmittelbaren, sondern auch die vielfältigen, über den nationalen Kontext hinausweisenden Folgelasten sozialer und ökonomischer Art zu berücksichtigen.
Weblink:
Ad hoc Empfehlung zur Corona-Krise - www.ethikrat.org
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen